Ludwig Böhme im Gespräch

„Wir überstrahlen den Tod. Das ist Bachs Botschaft. Und die verkünden wir.“

Ludwig Böhme ist seit einem Jahr künstlerischer Leiter des Windsbacher Knabenchores und dirigiert am 4. August in Kloster Eberbach die Johannespassion

Seit September 2022 leitet Ludwig Böhme, langjähriger Sänger und Gründungsmitglied des Leipziger Calmus Ensemble, den Windsbacher Knabenchor. Auch in diesem Jahr ist das Ensemble, das 2007 mit seinem damaligen Dirigenten Karl-Friedrich Beringer den Rheingau Musik Preis erhielt, Gast des Festivals und führt am 4. August in Kloster Eberbach zusammen mit Solisten und dem Freiburger Barockorchester Bachs Johannespassion auf. Im Interview blickt Böhme auf sein erstes Jahr in Windsbach zurück und erzählt, warum er sich besonders auf dieses Passionskonzert freut:

Herr Böhme, Sie sind seit bald einem Jahr künstlerischer Leiter des Windsbacher Knabenchors. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Sehr intensiv! Und ich habe gelernt: Den „Normalbetrieb“ eines Knabenchores gibt es nicht. Es ist immer was los, es ist aufregend und abwechslungsreich – die Arbeit gibt mir auch immer wieder viel zurück. Was vielleicht überraschen mag: Im Arbeitsalltag als Leiter des Windsbacher Knabenchores ist die Musik nicht immer die Hauptaufgabe, sondern es gibt auch viel zu tun im organisatorischen, pädagogischen und wirtschaftlichen Bereich. Ich bin gerne hier und in diesem ersten Jahr habe ich viel gelernt und erlebt. Und ich habe eine Basis gefunden, auf die ich im nächsten Jahr aufbauen kann.

Wann haben Sie atmosphärisch und musikalisch das Gefühl gehabt, angekommen zu sein?
Das ist kein Gefühl, das sich einstellt und dann ist es und bleibt auch da, sondern es muss jeden Tag neu erarbeitet werden. Es gibt Momente, da funktioniert alles ganz hervorragend und Tage – und die können durchaus auch aufeinanderfolgen! –, wo irgendwie der Wurm drin ist. Das musikalische Verständnis in einem Knabenchor ist ein Prozess, der jeden Tag aufs Neue hergestellt werden muss.

Der Chor hat im Auswahlverfahren ja eindeutig für Sie gestimmt. Wie läuft den nun die tagtägliche Zusammenarbeit?
Auch das ist ein Prozess, der sich stetig weiterentwickelt und Zeit braucht. Die Windsbacher werden durch ihren Chorleiter intensiv geprägt. Bis August 2022 war dies Martin Lehmann. Nun bin ich das – mit zum Teil ähnlichen, sicher aber auch vielen unterschiedlichen Ansätzen und Herangehensweisen. Das lässt sich nicht so einfach umschalten. Daher bin ich sehr dankbar dafür, dass der Chor so offen ist, mich gut angenommen und Bereitschaft gezeigt hat, sich auf Neues einzulassen. Das ist keine Kleinigkeit.

Wer die Windsbacher über einen längeren Zeitraum begleitet und nun mal in Ihre Proben hereinhorchen kann, wird merken, dass Ihr Stil vor Ort durchaus ein Novum ist: Sie arbeiten mit einer größeren Gelassenheit. Hat sich was in der Art des musikalischen Umgangs miteinander geändert?
(lacht) So gelassen bin ich gar nicht. Die Windsbacher sind ein hervorragender, engagierter und leidenschaftlicher Chor. Genau das möchte ich erhalten und fortführen. Den Stil meiner Vorgänger habe ich nie direkt erlebt, kenne ihn also nur vom Hörensagen. Insofern möchte ich mich an Vergleichen nicht beteiligen und lieber nach vorn blicken. Meine Aufgabe ist es, die hervorragende Arbeit meiner Vorgänger kontinuierlich fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Und ich mache das auf meine Art.

Und die sieht wie aus?
Sie fußt auf Gründlichkeit und Inspiration. Dass sauber, zusammen und balanciert gesungen wird, ist die Basis. Aber da muss ja noch mehr passieren: Es sollte das Werk, die Absicht des Komponisten, der Inhalt, die historische Einordnung und unser Blick aus dem Heute im Fokus einer guten Interpretation stehen. Und: Konzert ist Showtime und jeder Moment muss mit Sinn gefüllt werden. Der speist sich zu gleichen Teilen aus Qualität und Emotion.

„Ich möchte einfach grundsätzlich nicht, dass Musik zum Wettbewerb wird, wo es Gewinner und Verlierer gibt.“

Früher haben Sie selbst in einem Knabenchor, nämlich im Thomanerchor, gesungen. Nun stehen Sie vor einem solchen Ensemble. Ist das die andere Seite ein- und derselben Münze?
Ich profitiere natürlich von den Erfahrungen, die ich in Leipzig gemacht habe. Denn das gibt mir die Möglichkeit, mich in die Jungs vielleicht etwas besser hineinversetzen zu können. Ich empfinde es als sehr große Verantwortung, in der neuen Leitungsposition dieses sehr komplexe Schiff Windsbacher Knabenchor zu steuern. Die Windsbacher sind starke Persönlichkeiten, die viel geben, aber auch Erwartungen haben. Die beinahe tägliche Chorarbeit ist für die Windsbacher quasi ein Hauptberuf und hat eine große Intensität. Die Gemeinschaft und das Zusammenleben auf unserem schönen Campus ist die notwendige Voraussetzung für unsere Erfolge. Wir haben in nur einem Jahr schon so viel zusammen erlebt.

Danke für das Stichwort: Was waren für den Chor denn die konzertanten Höhepunkte?
Jeder Auftritt, von der Andacht bis zur Oratorienaufführung verdient die gleiche Ernsthaftigkeit. Aber natürlich: In der Elbphilharmonie oder im Palau de la Música Catalana in Barcelona zu singen und zu sehen, wer da vor uns schon Erfolge gefeiert hat, ist für die Windsbacher schon etwas Besonderes! Und das setzt sich ja mit der Johannespassion bei der Bachwoche Ansbach oder im Rheingau Musik Festival fort. Als ersten Höhepunkt würde ich unsere Spanientournee mit Bachs Weihnachtsoratorium nennen, denn auf die erste Auslandsreise nach den Coronajahren haben sich alle besonders gefreut. Da A-cappella-Singen unser Alltag ist, werden die Oratorien auch von den Sängern als besonders spannend wahrgenommen: Solisten und Orchester inspirieren den Chor ungemein. Neben den Reisen und der Chorsinfonik war sicherlich auch unser Konzert zum Knabenchorgipfel beim Bachfest Leipzig ein besonders emotionaler Höhepunkt, denn natürlich wollten der Chor und auch ich ganz persönlich in meiner „alten“ Heimat den einen überzeugenden Auftritt abliefern.

Sie haben eben den Begriff Gipfeltreffen erwähnt. Spüren oder benennen Sie eine Konkurrenz zwischen den Knabenchören?
Natürlich interessiert es mich, wie andere Knabenchöre, wie meine Kollegen arbeiten – musikalisch, pädagogisch und institutionell. Von Gutem kann ich mich inspirieren lassen, von weniger Gutem distanziere ich mich. Ich möchte einfach grundsätzlich nicht, dass Musik zum Wettbewerb wird, wo es Gewinner und Verlierer gibt. Jugendliche schwanken auch – es gibt Sternstunden und auch einmal schlechte Tage, vielleicht ist bei Kindern die Bandbreite etwas größer als sie bei gefestigten Erwachsenen ist. Auch ändert sich ein Knabenchor mit jedem Monat, bei dem Jungs in den oder aus dem Stimmbruch kommen. Deshalb ist die Arbeit ein ständiges Dranbleiben. Jeder Knabenchor hat seine eigene Struktur, Aufgabe und Wirkungsstätte. Dies gibt jedem Ensemble sein unverwechselbares Profil. Ich bin dann glücklich, wenn ich merke, dass wir das, was wir musikalisch erarbeitet haben, im Konzertmoment vielleicht sogar noch ein bisschen übertreffen oder um Facetten ergänzen konnten, die wir im Probenalltag noch nicht erreicht hatten – wenn wir ein Stück weit über uns herauswachsen konnten. Und genau dies freut mich auch bei allen anderen Knabenchören.

Das wird Ihnen sicherlich auch in Kloster Eberbach gelingen, wo Sie ja am 4. August Bachs Johannespassion singen. Ist das eine besondere Herausforderung für die Jungs?
Die Johannespassion ist ein Werk, das beim Windsbacher Knabenchor einfach Begeisterung auslöst. Die Passionsgeschichte ist natürlich jedem bekannt und greifbar. Aber diese Dramatik und Emotionalität, die in Bachs Musik drinsteckt, können die Jungs wahnsinnig gut umsetzen. Das habe ich bereits in zwei Konzerten in Breslau und Nürnberg erleben dürfen und freue mich auf weitere Konzerte mit diesem Stück.

Wie sah Ihre Vorbereitung aus?
Wir haben stark daran gearbeitet, die verschiedenen Perspektiven sichtbar zu machen: In den Turbachören tritt der Chor als aggressiver Mob auf, der die Kreuzigung fordert. Und dann legen wir den Schalter um und betrachten das Geschehen in den Chorälen ruhig und reflektierend, durchaus auch aus heutiger Sicht. In den Proben galt es, die Vielseitigkeit dieser Musik zu entdecken. Und die nun im Konzert abzubilden ist etwas, was den Jungs wirklich sehr gut gelingt. Für mich, der ich das Werk von Kindesbeinen an kenne, ist es natürlich auch eine große Verantwortung, jetzt mit diesen renommierten Klangkörpern Windsbacher Knabenchor und Freiburger Barockorchester eine Interpretation zu präsentieren. Und beim Rheingau Musikfestival im wunderbaren Kloster Eberbach tun wir dies besonders gern!

Was wird denn das Publikum dort erleben?
Gerade Bachs Johannespassion ist ein Werk, das weltweit bekannt ist, über das kluge Menschen geschrieben und tolle Musiker bahnrechende Interpretationen geliefert haben. Jeder Ton ist da intensiv durchdacht. Ich bin aber sicherlich keiner, der glaubt, jedes Jahr an Weihnachten den Zimtstern neu erfinden zu müssen. Richtiges hat Bestand. Mit den Windsbachern und den historischen Instrumenten des Freiburger Barockorchester ziele ich auf Authentizität. Dass ein Knabenchor das Passionsgeschehen artikuliert und singt, kann uns tatsächlich ein bisschen in die Zeit Bachs zurückversetzen. Und genau dies ist es, was die Knabenchöre auch heute relevant macht: Bachs Meisterwerke, ein unschätzbares Kulturgut, authentisch lebendig halten zu können. Und die musikalische, emotionale und theologische Einzigartigkeit der Johannespassion vermittelt sich in jedem einzelnen Ton.

Gibt es für Sie eine Stelle oder Partie in der Johannespassion, in der sich das besonders offenbart?
Der Eingangschor ist enorm vielschichtig und für mich eines der beeindruckendsten Werke der Musikgeschichte. Natürlich hat die Passion auch wundervolle Choräle. Die Johannespassion endet mit dem Satz „Ich will Dich preisen ewiglich“. Aber damit beginnt sie eben auch schon, mit „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist“. Wir überstrahlen den Tod. Das ist Bachs Botschaft. Und die verkünden wir.

Eine Aufgabe, die den Chor nicht nur mit Bachs Johannespassion beschäftigt: Was gibt es für besondere Projekte im kommenden Jahr?
Auch für die kommende Saison haben wir wieder einen interessanten und schönen Konzertkalender. Zu Weihnachten gehen wir eine Zusammenarbeit mit der lautten compagney berlin an, die uns auch in das Konzerthaus Berlin führen wird. Eine weitere Kooperation findet mit den Nürnberger Symphonikern statt. Im Frühjahr steht eine Konzertreise nach Frankreich an und wir werden auch wieder im Rheingau Musik Festival zu Gast sein und dort unter anderem Puccinis Messa di Gloria singen, also Chorsinfonik, die in eine ganz andere Stilistik geht. Es gibt genug zu tun.

Herr Böhme, dafür wünschen wir Ihnen und dem Windsbacher Knabenchor viel Erfolg und danken für das Gespräch.

 

Der Windsbacher Knabenchor beim Rheingau Musik Festival 2023

K 99 | 4.8. | Fr. 19 Uh
Kloster Eberbach
Basilika

Gesangssolisten
Freiburger Barockorchester
Windsbacher Knabenchor
Ludwig Böhme, Leitung

Das Gespräch führte Jan-Geert Wolff. Wir danken ihm herzlich für die freundliche Bereitstellung des Textes.
Fotos © Anne Hornemann