Fokus: Andrés Orozco-Estrada

„Meine wirkliche Heimat ist die Musik, mit der ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe“

Ihre Wirkungsstätte ist die Bühne, ihr Werkzeug bloße Mimik und Gestik: Dirigentinnen und Dirigenten sind Visionäre, Vermittler und Führungspersonen in einem. Sie inspirieren und schaffen Brücken zwischen den Musikzierenden und dem Publikum, indem sie Emotionen hervorrufen und Geschichten durch die Musik erzählen. In vier Konzerten präsentiert Andrés Orozco-Estrada dem Publikum des diesjährigen Rheingau Musik Festivals diese besonderen Fähigkeiten.

Sie sind in Kolumbien geboren, als junger Erwachsener nach Wien gezogen und durch Ihre Engagements in der ganzen Welt unterwegs. Sie haben sicherlich schon so vieles von dieser Welt gesehen, doch wo, würden Sie sagen, ist Ihre Heimat? Gibt es einen bestimmten Ort, an dem Sie am liebsten Dirigieren?

Einen bestimmten geografischen Ort als meine Heimat zu bezeichnen, ist nicht möglich. Wenn ich eine geliebte Stadt nennen würde, müsste ich sofort auch weitere Städte aufzählen. Ich habe ein wunderbares Zuhause, wo ich mit meiner Familie lebe. Aber meine wirkliche Heimat ist doch die Musik, mit der ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe. Die Musik ist das Einzige, was ich immer bei mir habe und was mich emotional sehr bewegt – darum würde ich dieses Gefühl, diese Beziehung als meine Heimat bezeichnen.

 

Der Berufswunsch des Dirigenten ist kein weit verbreiteter. Wie kamen Sie auf die Idee, einmal große Klangkörper leiten zu wollen? Stand diese Vision schon in Ihrer Kindheit fest?

Freude an der musikalischen Bewegung, am Dirigieren, hatte ich schon als kleines Kind. In unserem Wohnzimmer habe ich auf einem Kassettenplayer die „Kleine Nachtmusik“ von Mozart gespielt und dazu herumgefuchtelt und irgendwelche Dinge dazu geplaudert. Als Taktstock habe ich einen Teil der Antenne unseres Fernsehers abgeschraubt, das ging ganz leicht. Auch in meiner Schule war Musik sehr wichtig, wir haben wirklich viel gehört und gesehen, so auch Videos von berühmten Dirigenten, zum Beispiel von Carlos Kleiber und Leonard Bernstein. Irgendwann habe ich begonnen, sie zu imitieren und hatte damit schon bald die Aufmerksamkeit der Klasse gewonnen – Karajan spielte dann keine Rolle mehr, sondern eher die Frage: Wie macht Andrés den Karajan nach?

In einem Kammermusikensemble in der Schule habe ich in der Vergangenheit noch Geige gespielt – und auch dort habe ich begonnen, meine Dirigierspäße zu machen. Das hat dann meinen Lehrer doch irritiert und er sagte: „Gut, wenn du so viel Spaß am Dirigieren hast, dann kannst Du morgen gleich die Probe übernehmen!“ Er wollte mich damit sicher einschüchtern, aber ich habe am nächsten Tag tatsächlich die Probe dirigiert und ich glaube, es ist ganz gut gelungen. Der Lehrer war jedenfalls zufrieden und ließ mich weitermachen, bis ich dann beim Schulabschluss ein Konzert dirigierte.

Woher meine Freude am Dirigieren ganz genau kam, weiß ich nicht. Sie war einfach immer schon in mir und es hat mir immer unglaublich viel Freude gemacht. Dieses „Urgefühl“ möchte ich mir immer bewahren.

 

Sie sind damals als junger Erwachsener nach Wien zum Studieren gegangen, haben eine ganz neue Kultur kennengelernt und dabei Ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Hatten Sie damals eine oder mehrere musikalische Bezugspersonen, die Sie auf dem Weg unterstützt und geprägt haben? Was würden Sie jungen, angehenden Dirigenten und Dirigentinnen mit auf ihren Weg geben?

Als ich nach Wien zum Studieren kam, hatte ich nichts zu verlieren und musste auch nichts fix im Auge behalten. Ich hatte das große Privileg, unvoreingenommen lernen zu dürfen, mein Wissen und Können zu vertiefen. Das geht nur, wenn man sich öffnet. Auf diesem Weg gab es viele Menschen, die ich sehr inspirierend fand: Es gab eine Dirigentin in Kolumbien, die mit uns Jugendlichen wunderbar umgegangen ist. Natürlich war und ist meine Mutter sehr wichtig für mich. Sie hat mich ganz entscheidend als Mensch geprägt, der ich als Dirigent ja auch bin. Es haben immer wichtige und inspirierende Begegnungen stattgefunden, ob im Studium, im Musikleben oder einfach draußen in der Welt. Doch damit ich jemanden als inspirierend empfinden kann, muss ich mich auch selbst dafür interessieren, inspiriert werden zu wollen. Es sind also immer zwei Menschen beteiligt. Ein Bewusstsein dafür würde ich jungen Kolleginnen und Kollegen ans Herz legen. Voraussetzung dafür ist aber immer, dass man zu sich selbst ganz ehrlich ist und sich einige fundamentale Fragen stellt: Will ich diesen Beruf wirklich ausüben? Bin ich bereit, alles zu tun, was es dafür braucht? Und die wahrscheinlich schwierigste Frage ist: Habe ich wirklich etwas anzubieten? Wie gleiche ich Schwächen aus, wie setze ich meine Stärken am besten ein? Für junge Menschen, die am Beginn ihrer Karriere stehen, halte ich den ganz ehrlichen Umgang mit diesen Fragen für entscheidend.

© Werner Kmetitsch

Dem Dirigieren gehen eine präzise Technik und ein umfangreiches musikhistorisches Wissen voraus. Persönliches und der eigene Geschmack spielen bei der Erarbeitung eines Programms sicherlich ebenso eine Rolle wie die Entstehungsgeschichte des Werkes und biografische und kompositorische Aspekte. Was steht bei Ihnen an erster Stelle? Wie gehen Sie mit diesen vielen Einflüssen um?

Ich denke nicht, dass etwas an erster Stelle stehen muss. Alle diese Aspekte (und noch viele andere) sind wichtig. Wie sie gewichtet und geordnet werden, entscheidet sich aus der jeweiligen Situation heraus. Die Konzentration richtet sich immer auf das, was gerade nötig ist – da gibt es nicht wirklich eine Hierarchie für mich.

Wenn Sie ein Programm nach Belieben auswählen könnten, unabhängig von jeglichen äußeren Kriterien, Vorgaben oder Einflüssen, wie würde es aussehen? Was sind Ihre absoluten Lieblingswerke beim Dirigieren?

Die Antwort ist hier ganz ähnlich wie zuvor: Es ist ein großes Geschenk, dass ich das nicht entscheiden muss. Ich habe keine Lieblingswerke oder Lieblingskomponisten. Wenn ich heute ein Herzensstück nennen würde, kann es in der nächsten Woche schon ein anderes sein. Und nicht zu vergessen: Zu unterschiedlichen Orchestern, Orten und Bühnen passen auch unterschiedliche Programme. Ich lebe und mache Musik immer in einem „Kontext“, damit habe ich kein Problem – im Gegenteil: Ich liebe das! Wenn sich ein Veranstalter oder ein Orchester ein bestimmtes Stück wünscht, dann kann man von diesem Punkt aus weitergehen und etwas entwickeln. Aber es wird immer ein anderes Ergebnis dabei herauskommen.

 

Als ehemaliger Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters haben Sie viele Jahre lang das Eröffnungskonzert des Rheingau Musik Festivals dirigiert. Wie haben Sie diese Konzerte wahrgenommen? Gibt es besondere Momente, an die Sie sich gerne zurückerinnern?

Die Eröffnungskonzerte des Rheingau Musik Festivals habe ich stets sehr genossen, das waren immer sehr außergewöhnliche Abende. Das Kloster Eberbach hat eine ganz einzigartige Akustik und Atmosphäre, und es ist sowieso jedes Mal etwas ganz Besonderes, ein Festival zu eröffnen. Von diesen besonderen Momenten gibt es sehr viele, und ich habe sie in guter Erinnerung. Hier etwas herauszugreifen, fällt mir schwer. Es ist vielmehr die Stimmung, die ich immer sehr gern mag.

Dieses Jahr sind Sie als Fokus-Künstler mit anderen, ebenso bedeutenden Klangkörpern auf der Bühne. Wie unterscheidet sich die Arbeit als Chefdirigent eines Orchesters zu Konzerten mit Klangkörpern, mit denen Sie nur gelegentlich zusammenarbeiten? Spielen die Rahmenbedingungen eines Konzerts mit einer so langjährigen Erfahrung, wie Sie sie bereits haben, überhaupt noch eine Rolle?

Äußere Umstände spielen natürlich eine gewisse Rolle. Was die Arbeit mit unterschiedlichen Orchestern betrifft, so ist jede Begegnung sehr wichtig, egal ob es die erste oder die hundertste ist. Idealerweise – und ich formuliere das gerne etwas „romantisch“ – ist ein gemeinsames Konzert mit einem mir bestens vertrauten Orchester jedes Mal genauso aufregend und inspirierend wie die erste Probe mit einem Orchester, mit dem ich vorher noch nie zu tun hatte. In gleicher Weise würde ich auch nicht gewichten, ob ein Gespräch mit einem alten Freund besser oder wertvoller für mich ist als ein erstes Kennenlernen mit jemand Fremden.

„Ich habe immer gespürt, dass mich die rhythmische Energie und die kraftvolle Klangwelt unglaublich faszinieren. Musikalisch interessant sind die rhythmischen Elemente, aber die eigentliche Herausforderung ist wahrscheinlich, das „pralle Leben“ in diesem Stück herauszuarbeiten.“

– über Carl Orffs „Carmina Burana“

Dieses Jahr präsentieren Sie auf der Bühne von Kloster Eberbach Carl Orffs „Carmina Burana“ gemeinsam mit dem Gürzenich-Orchester Köln, das Sie schon bald als Generalmusikdirektor der Stadt Köln leiten werden. Was verbinden Sie mit diesem Werk? Gibt es bestimmte Herausforderungen, die das Werk mit sich bringt?

In Kolumbien habe ich im Kinderchor oft die „Carmina Burana“ gesungen. Jedes Jahr wurde das Stück in meiner Geburtsstadt Medellín einmal gespielt, der Saal war dabei immer voll. Worum es sich bei diesem Werk gehandelt hat, habe ich gar nicht so richtig verstanden. Aber ich habe immer gespürt, dass mich die rhythmische Energie und die kraftvolle Klangwelt unglaublich faszinieren. Musikalisch interessant sind die rhythmischen Elemente, aber die eigentliche Herausforderung ist wahrscheinlich, das „pralle Leben“ in diesem Stück herauszuarbeiten – wie geht man mit den liebevollen Momenten, der Zärtlichkeit, den Übertreibungen, dem Grotesken und den kleinen absurden Dingen bestmöglich um? Ich habe die „Carmina Burana“ als Kind in Kolumbien ganz frei vom politisch-historischen Kontext lieben gelernt, und ich freue mich sehr darauf, dieses große Wunderwerk aufzuführen.

 

Worauf freuen Sie sich bei Ihren Konzerten beim Rheingau Musik Festival und worauf darf das Publikum bei Ihren Interpretationen im kommenden Sommer besonders gespannt sein?

Das führt mich wieder zur allerersten Frage zurück: Ich freue mich auf ein Wiedersehen und Wiederhören beim Rheingau Musik Festival, einer „Heimat“ von mir! Wir haben viel vor und werden sehr unterschiedliche Stücke aufführen, die „Carmina Burana“, die Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und noch viel mehr. Und ich hoffe, dass sich unser Publikum darauf freut, diese Musik mit uns zu erleben.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Headerfoto © Julia Wesely. Das Interview führte Franziska Jung.