Fokus: Martynas Levickis

„Wenn die Musik in einem selbst lebt, wird man seinen eigenen Weg finden“

Der Musiker Martynas Levickis befreit das Akkordeon von allen Vorurteilen, die diesem Instrument so anhaften mögen. Geschickt hat er es in den letzten Jahren zum Hauptakteur auf klassischen Bühnen oder in großen Stadien gemacht. Denn für ihn gilt: Das Akkordeon ist ein Alleskönner!

Bereits in jungen Jahren begannen Sie in einem Elternhaus, das sie tatkräftig unterstützt hat, Musik zu machen. Wie haben Sie diese musikalischen Anfänge wahrgenommen? Was würden Sie jungen Musikerinnen und Musikern raten, die eine ähnliche Karriere wie Sie anstreben, aber keine Unterstützung von zu Hause erhalten?

Meine musikalischen Anfänge waren das Beste, was mir je passieren konnte. Ich hatte mein Instrument und alle Freiheiten, es zu erforschen. Es fasziniert mich bis heute und wenn ich ehrlich bin, denke ich gerade an schwierigen Tagen, wenn ich mit meiner Musik oder Leistung hadere, oft an diesen Ausgangspunkt zurück: ein kleiner Junge mit einem roten Umhang und einem Hut, der mit seinem kleinen Akkordeon auf den Schultern durch die Wälder läuft.
Es gibt viele Ratschläge, aber der Beste ist manchmal, gar keinen zu geben. Meiner Meinung nach gilt: Wenn es so sein soll, dann wird es auch so passieren. Wenn die Musik in einem selbst lebt, wird man seinen eigenen Weg finden, um dranzubleiben, hart zu arbeiten und immer nach vorne zu schauen. Selbst dann, wenn die Unterstützung fehlt.

 

Sie haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ist die Musik auch im Alltag Ihr Ausgleich oder gibt es andere Aktivitäten, die Ihnen Balance verschaffen?

Mittlerweile muss ich sagen, dass nur die Musik allein nicht ausreicht. In erster Linie muss man sich seiner Menschlichkeit bewusst sein, bevor man sich auf professionelle berufliche Fähigkeiten und Rollen konzentriert. Als reisender Musiker könnte ich mein Gleichgewicht ohne regelmäßigen Sport, Massagen, gesundes und leichtes Essen, einen guten Spaziergang oder Gespräche mit einem guten Freund oder Partner nicht aufrechterhalten. Guter Schlaf und Ruhe sind ebenfalls wichtig.

Ihre Engagements führen Sie um die ganze Welt, heute ein Konzert hier, morgen dort. Finden Sie auch gelegentlich Zeit „nach Hause“ zu kommen oder genießen Sie vor allem die Zeit unterwegs? Besuchen Sie noch oft Ihre Heimat in Litauen?

Ich bin Litauer, ganz egal, wie oft das Leben wollte, dass ich etwas anderes bin oder werde. Ich komme immer zu meinen Wurzeln zurück und ich kämpfe auch nicht dagegen an. Ich glaube, ohne einen vollen Konzert- und Reiseplan wäre ich nicht besonders glücklich, aber ich genieße auch immer meine Zeit zu Hause. Das bedeutet nicht nur zu Hause zu sein, sondern auch meine Familie und Freunde zu besuchen und Zeit in der ruhigen nordischen Landschaft zu verbringen.

© Rui Camilo

Ihr Repertoire reicht von litauischen Volksliedern über klassische Werke, bis hin zu Filmmusik, Popmusik und zeitgenössischer Musik. In Ihren Konzerten präsentieren Sie viele verschiedene Genres und verbinden diese teilweise auch miteinander. Haben Sie dennoch ein präferiertes Genre, eines, dem sie sich am meisten verbunden fühlen oder das Sie am meisten interessiert?

Die Natur meines Instruments ist der wichtigste Impulsgeber und die größte Inspiration für meine musikalischen Entscheidungen. Das Akkordeon hat eine relativ kurze Geschichte und bietet daher nur eine begrenzte Menge an Originalrepertoire. Deshalb muss ich manchmal erfinderisch werden und etwas von dem Repertoire stehlen, das eigentlich nicht für mein Instrument komponiert wurde.
Aber ich mache es mir zur Aufgabe, immer das Stück zu finden, das in erster Linie meine Seele bewegt, damit ich es mit Begeisterung erforschen und aufführen kann. Und dann geht es stets darum, das Stück so klingen zu lassen, als wäre es für mein Instrument geschrieben worden. Denn es kann niemals nur eine einfache Nachahmung vom Klang und der Spielweise anderer Instrumente sein. Bei diesem Prozess muss man sich immer des Materials und des Komponisten, mit dessen Werk man arbeitet, bewusst sein und genau das respektieren. Und dennoch: Bei einer Auswahl wie Mahlers „Adagietto“ aus der fünften Sinfonie, Chopins Walzer op. 64 Nr. 2 oder Bachs Französischer Suite Nr. 5 würden die Leute immer den Unterschied im Klang erkennen. Ein Unterschied, der vielleicht zunächst überrascht, aber dem Publikum dann immer näherkommt. Auf der anderen Seite, wenn ich zugänglichere Musik wie Pop-Arrangements oder populäre Klassiker spiele, erlange ich die Aufmerksamkeit eines anderen Publikums, das ich dann wiederrum auf andere, weniger bekannte Musikgenres lenken kann. Das funktioniert in der Regel nicht nur zu meinem eigenen Vorteil als Interpret, sondern fördert auch die Verbindung zwischen der Musik und des Zuhörenden.

 

Dem Akkordeon wird meist etwas Traditionelles, Folkloristisches zugeschrieben. Sie beweisen in Ihren Konzerten, dass dieses Instrument allerdings sehr wandelbar und vielseitig einsetzbar ist. Worin sehen Sie einen Vorteil des Akkordeons gegenüber anderen Instrumenten?

Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Philipp Emanuel Bach schrieben Briefe an Instrumentenbauer und baten darum, ein Instrument anzufertigen, das tragbar sei, den Klang über längere Zeit aufrechterhalten könne und individuelle mehrstimmige Linien erzeugen würde. Leider wurden die Instrumentenhersteller diesem Wunsch nicht gerecht, denn der erste Prototyp des Akkordeons wurde erst 1829 in Wien patentiert. Und damals war es nur ein primitiver Kasten mit wenigen Knöpfen. Heutzutage ist das Akkordeon das, wovon die Komponisten damals geträumt haben. Es ist ein eigenständiges Orchester. Es kann intim und sanft, verspielt und spritzig, aber auch majestätisch und laut sein. Und es kann das Repertoire von der Frührenaissance bis zur Musik des 21. Jahrhunderts abdecken, wobei es immer diesen aufregenden Hauch von etwas Geheimem mit sich bringt.

„Für diejenigen, die mich zum ersten Mal treffen, wünsche ich mir nur eines – dass sie sich in das Akkordeon verlieben! Das ist schließlich meine Lebensaufgabe.“

Sie scheinen immer am Puls der Zeit zu sein, sowohl musikalisch als auch in anderen Bereichen, etwa mit ihren Bühnenshows oder in den sozialen Medien. Denken Sie, dass Social Media einen großen Einfluss auf den Klassikbetrieb hat bzw. haben wird? Wie nutzen Sie diese Kanäle für sich und Ihre Konzerte?

Haben wir heutzutage eine Wahl, anders zu denken? Ich gehöre zu den Menschen, die immer noch gern Papier und Stift und eine gute, altmodische Art, Dinge zu tun, mögen. Aber da ich ein junger Mensch bin, nehme ich natürlich die Vorzüge der modernen Welt an. Und es ist toll, wenn es der Karriere hilft oder neue Konzerttermine oder Ideen bekannt macht. Meiner bescheidenen Meinung nach wird der Stellenwert der sozialen Medien ein wenig überschätzt, aber es ist unbestreitbar ein wirkungsvolles Mittel, um seine Existenz als Mensch und als Musiker darzustellen.

Als Fokus-Künstler präsentieren Sie sich und das Akkordeon in diesem Sommer sowohl im Solorezital als auch mit Orchester, an einem Duo-Abend mit Orgel, im Akkordeon-Sextett und weiteren Formationen. Wie planen Sie Ihre so vielfältigen und unterschiedlichen Konzertprojekte?

Bei der Planung von Projekten und bei der Repertoireauswahl habe ich immer ein großes weißes Blatt Papier vor mir liegen. Und dann kann man sich wie ein Schöpfer fühlen! Man kann auf dieses Papier schreiben, was man will. Erst nach einer Weile wird es durch einige Faktoren und Bedingungen usw. angepasst – und das ist ganz natürlich. Die Zusammenstellung von Programmen hängt meiner Meinung nach maßgeblich von meiner jeweiligen Sicht auf die Welt, auf mich persönlich und auf mein Instrument ab. Und auch von der Entscheidung, was ich dem Akkordeon, mir selbst und vor allem dem Publikum noch geben kann. Ich bin mir sicher, dass die Konzertprogramme beim Rheingau Musik Festival durch viele verschiedene Empfindungen, Klänge und Farben führen, die das Instrument auf eine spannende Art und Weise präsentieren.

 

Durch Ihre Konzerte in den vergangenen Jahren, haben Sie bereits einige Spielstätten des Rheingau Musik Festivals kennengelernt. Und auch in diesem Jahr sind die Veranstaltungsorte ganz unterschiedlich und reichen von der mystischen Atmosphäre im Hospitalkeller von Kloster Eberbach bis zur großen Bühne des Kurhauses in Wiesbaden. Wie unterscheidet sich ein Konzert vor 100 Leuten zu einem Konzert vor Tausenden von Menschen?

Ich kann nur sagen, dass mir persönlich ein Konzert vor 100 Leuten, oder sogar weniger Menschen, im Vergleich zu einem größeren Publikum unheimlich ist. Es kann unerträglich intim und somit einschüchternd werden. Andererseits gibt es nichts Persönlicheres und Unverfälschteres, als in einem kleinen Raum für ein kleines Publikum zu spielen, das einen umgibt. Ich weiß, dass alle verschiedenen Veranstaltungsorte des Rheingau Musik Festivals ihren eigenen Charme und ihre eigene Akustik haben, so dass das Gefühl überall anders sein wird. Das ist wirklich sehr aufregend.

 

Wir freuen uns sehr, Sie beim Rheingau Musik Festival als einen unserer Fokus-Künstler besonders oft erleben und hören zu dürfen. Was möchten Sie dem Publikum in Ihren Konzerten mitgeben? Und worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich hoffe, dass bei denen, die mich bereits zuvor gesehen haben und nun zu meinen Konzerten zurückkehren, die Neugier und Begeisterung für dieses besondere Instrument anhalten wird. Und für diejenigen, die mich zum ersten Mal treffen, wünsche ich mir nur eines – dass sie sich in das Akkordeon verlieben! Das ist schließlich meine Lebensaufgabe und ich bin dem Rheingau Musik Festival dankbar, dass es meinem Instrument und mir eine so schöne Plattform bietet, indem es uns beide in diesem Jahr in den Mittelpunkt stellt.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Headerfoto © Rui Camilo. Das Interview führte Franziska Jung.