Es ist einer der größten Skandale der Musikgeschichte: Die Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ am 29. Mai 1913 gerät völlig außer Kontrolle. Das Publikum tobt vor Wut und wird handgreiflich, die Polizei muss einschreiten, der Komponist verlässt wütend die Vorstellung. „Fahrt zur Hölle“, soll Igor Strawinsky gesagt haben, als er kurz nach dem Beginn aus dem Saal des Théâtre des Champs-Élysées in Paris stürmt. Was war geschehen?

 

„Die Frühlingsweihe. Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen“ lautet der Titel des Stücks, das die Ballets Russes an diesem Abend auf die Bühne bringen. Die russische Tanztruppe unter der Leitung ihres Impresarios Sergei Djagilew war in Paris keineswegs unbekannt. Bereits in den Jahren vor der Skandalnacht 1913 hatten die Tänzerinnen und Tänzer mit Balletten große Erfolge feiern können, darunter mit Stücken wie „Der Feuervogel“ und „Petruschka“ – beides Werke eines noch recht unbekannten Komponisten: Igor Strawinsky.

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Mit dem Plan, an die ersten Erfolge anzuknüpfen, widmet sich Strawinsky 1911 der Idee zum „Sacre“, die er schon seit geraumer Zeit mit sich herumträgt. Ihm geht es nicht mehr darum, eine Geschichte oder Handlung zu erzählen. Er möchte Naturgewalten und ihre Wirkung auf den Menschen darstellen. Der einst „romantische“ Frühling wird zur rohen Urkraft umgedeutet. Im Zentrum des „Sacre“ steht der Todestanz eines jungen Mädchens, das dem Gott des Frühlings geopfert werden soll, um diesen günstig zu stimmen. Vorchristliche russische Mystik und das Interesse am Heidnisch-Exotischen üben auf das Pariser Publikum eine gewisse Anziehungskraft aus. Doch völlig neu ist Strawinskys Herangehen an den Ausdrucksgehalt der Musik und die Behandlung des Orchesters: wilde Rhythmen, kaum Melodien oder sangliche Themen, scharfe Dissonanzen, schnelle und abrupte Taktwechsel – all das zieht dem Publikum den Boden unter den Füßen weg, lässt es orientierungslos zurück. Die Musik ist roh, zupackend und voll energiegeladener Spannung. Sogar das gesamte Orchester wird stellenweise zu einem großen Schlaginstrument. Mit einem Ruck stößt Strawinsky die Tür in die Moderne weit auf. Hinzu kamen schließlich noch die rustikalen Kostüme und eine unerhört provozierende Choreografie des virtuosen Tänzers Vaslav Nijinsky: Abgehackte und zuckende Bewegungen, Verrenkungen der Gliedmaßen, primitives Stampfen – mit Ballett hatte das in den Augen und Ohren des Pariser Publikums nichts mehr zu tun. Das Zusammenspiel aus grausamer Handlung, provokanter Umsetzung und einem noch nie dagewesenen Ausdrucksgehalt der Musik überforderte das Publikum.

Strawinsky erinnert sich später: „Was die aktuelle Aufführung anging, kann ich darüber nicht urteilen, da ich den Saal gleich bei den ersten Sätzen des Préludes verließ, was sofort zu höhnischem Lachen führte. Ich revoltierte. […] Natürlich konnten die armen Tänzer durch den Kampf im Auditorium und ihre eigenen Schritte nichts hören. Ich musste Nijinsky an den Kleidern festhalten, er war völlig aufgebracht und jeder Zeit bereit, auf die Bühne zu stürmen und einen Skandal zu verursachen. In der Hoffnung, den Tumult zu stoppen, veranlasste Djagilew die Elektriker dazu, das Licht auszuschalten.“

Und doch geht die Geschichte am Ende gut aus. Der Schock der Uraufführung ist überwunden und Strawinskys revolutionäres Skandalwerk ist aus dem Konzertleben nicht mehr wegzudenken. Die Energie und die Intensität dieser eindrucksvollen Musik packen ihre Hörer noch immer und lassen sie jedes Mal atemlos zurück.

Philipp Leibbrandt

Werkperspektiven: Le Sacre du Printemps beim Rheingau Musik Festival 2023

K 81 | 28.7. | Fr. 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden, Friedrich-von-Thiersch-Saal

Martin Grubinger, Perkussion
Ferhan & Ferzan Önder, Klavier
Alexander Georgiev, Perkussion
Jürgen Leitner, Perkussion

K 139 | 23.8. | Mi. 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden, Friedrich-von-Thiersch-Saal

Sheku Kanneh-Mason, Violoncello
Aurora Orchestra
Nicholas Collon, Leitung

K 140 | 24.8. | Do. 19 Uhr
Schloss Johannisberg, Fürst-von-Metternich-Saal

Lucas & Arthur Jussen, Klavier

 

© Wikipedia/Moritz Nähr

 

1860 wird im böhmischen Kalischt ein Junge geboren, der nach 51 turbulenten Jahren voller Musik der Welt viel zu früh wieder abhandenkommt: Gustav Mahler ist zeit seines Lebens ein Tänzer auf dem Drahtseil, ein Wandler zwischen den Welten, ein Erforscher des Seelenlebens. Er opfert sich auf für die Musik, ist leidenschaftlich, melancholisch, sehnsuchtsvoll. Mit einem weinenden Auge blickt er zurück in die Vergangenheit und stürmt zugleich voller Übermut in die Zukunft. Zum Komponieren entflieht er dem ihn umgebenden Tumult in die Ruhe der Natur, um dort das Chaos der Welt und seines Innenlebens in seiner Musik zu verarbeiten.

Der Komponist Mahler bewegt sich musikalisch zwischen Spätromantik und früher Moderne, bewundert einerseits die Kompositionen eines Richard Wagners oder Anton Bruckners, ebnet mit seinen eigenen Werken aber zugleich Arnold Schönberg und Dmitri Schostakowitsch den Weg. In seinem Leben stößt er vieles an, was die Musikwelt bis heute prägt.

Seine Musik ist so zeitlos, dass sie auch heutzutage der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Voller unerwarteter Wendungen, abstrakt und doch programmatisch, nachahmend, emotional, erzählend. Temperamentvolle Liebschaften, der Tod seiner sechs Geschwister und seiner Eltern, die Ausgrenzung aufgrund seiner jüdischen Herkunft, seine impulsive Ehe mit der 19 Jahre jüngeren Alma Schindler, ihre Affäre mit dem Architekten Walter Gropius und der Tod seiner eigenen Tochter: Das alles bringt ihn nicht nur zu Siegmund Freud auf die Couch, sondern findet auch Ausdruck in seiner Musik.

© Wikipedia
© Wikipedia/Carl Moll

Und trotzdem ist Mahlers Musik nicht ausnahmslos tragisch – ganz im Gegenteil: Es schwingen immer auch eine enorme Energie bis hin zur Ekstase, eine Art Glückstaumel und etwas Tröstliches darin mit. Am Attersee, in Maiernigg in Österreich oder im Südtiroler Pustertal verbringt Mahler seine Ferien, dort hat er kleine „Komponierhäuschen“ inmitten der Berge. „Hier ist es wunderherrlich und repariert ganz sicher Leib und Seele.“ Beim Anblick der Dolomiten schreibt er solch gewichtige Werke wie „Das Lied von der Erde“, seine neunte und die unvollendete zehnte Sinfonie. Die Natur, die Stille und die Schönheit der Berge geben ihm die nötige Kraft, um sich zu regenerieren und kreativ zu sein. Hier findet er Frieden und bekommt den Kopf frei von seinem Alltag.

Ein Alltag, der ihm oft keine Zeit zum Durchatmen lässt: Nachdem sich Mahler in ganz Europa bereits einen hervorragenden Ruf als Dirigent erarbeitet hat, unterzeichnet er 1897 mit nur 38 Jahren den Vertrag zu einem der prestigeträchtigsten Ämter, die die Musikwelt seinerzeit zu bieten hat – die Stellung des Kapellmeisters an der Wiener Hofoper. Dort verfolgt er seinen auf Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes basierenden Ansatz, Musik und Darstellung in der Oper immer weiter in Einklang zu bringen. Unermüdlich treibt es ihn vom Orchestergraben mitten ins Geschehen auf die Bühne und wieder zurück, und durch seinen Einsatz entwickelt sich das Wiener Opernhaus zu einem der führenden Häuser weltweit. Nach zehn Jahren verlässt er die Hofoper aufgrund persönlicher Zerwürfnisse und geht an die Metropolitan Opera in New York. Allerdings ist auch diese Anstellung nicht von Dauer, und so leitet er ab 1909 in seinen letzten beiden Lebensjahren hauptsächlich sinfonische Konzerte amerikanischer Orchester.

Während er als Dirgent und Operndirektor schon recht früh Karriere gemacht hat, erlangt er seinen kompositorischen Durchbruch erst mit 34 Jahren – mit seiner opulenten Zweiten, der „Auferstehungssinfonie“. Neben seinen Liedkompositionen zählen seine Sinfonien wohl zu den bekanntesten Werken des Tonschöpfers. Sie alle tragen etwas schmerzlich Schönes in sich, eine persönliche Innigkeit, trotz ihrer teils riesigen Besetzungen. Drei dieser genialen Tonschöpfungen – die Sinfonien Nr. 2, 4 und 9 – erklingen beim diesjährigen Rheingau Musik Festival im Original, auf die dritte Sinfonie wird mit einer Bearbeitung für Kammerorchester und -chor ein ganz neues Licht geworfen. Daneben präsentiert das Fauré Quartett Mahlers selten gehörten Klavierquartettsatz in a-Moll im Konzert auf Schloss Johannisberg, und in einem musikalisch-literarischen Abend wird zum Abschluss des Mahler-Wochenendes die Ehe der beiden Künstlerpersönlichkeiten Gustav und Alma näher beleuchtet.

 

Theresa Awiszus
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Spot on: Mahler beim Rheingau Musik Festival 2023

K 18 | 2.7. | So. 19 Uhr
Kloster Eberbach, Basilika

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3

Kate Lindsey, Mezzosopran
Hymnus Knabenchor
FREIGEIST Chor und Ensemble
Joolz Gale, Leitung

K 131 | 18.8. | Fr. 20 Uhr
Kloster Eberbach, Basilika

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 2

Pavla Vykopalová, Sopran
Jana Hrochová, Mezzosopran
Tschechischer Philharmonischer Chor Brno
Filharmonie Brno
Dennis Russell Davies, Leitung

K 133 | 19.8. | Sa. 19 Uhr
Kloster Eberbach, Basilika

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4

Kate Lindsey, Mezzosopran
Hymnus Knabenchor
FREIGEIST Chor und Ensemble
Joolz Gale, Leitung

K 134 | 19.8. | Sa. 19 Uhr
Schloss Johannisberg, Fürst-von-Metternich-Saal

Fauré Quartett

Erika Geldsetzer, Violine
Sascha Frömbling, Viola
Konstantin Heidrich, Violoncello
Dirk Mommertz, Klavier

Gustav Mahler: Klavierquartettsatz a-Moll
Max Reger: Klavierquartett Nr. 2 a-Moll op. 133
Johannes Brahms: Klavierquartett c-Moll op. 60

K 136 | 20.8. | So. 19 Uhr
Schloss Johannisberg, Fürst-von-Metternich-Saal

Alma & Gustav Mahler

Corinna Harfouch & Peter Lohmeyer, Rezitation
Roman Trekel, Bariton
Hideyo Harada, Klavier

 

K 142 | 25.8. | So. 20 Uhr
Kloster Eberbach, Basilika

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 9

Gustav Mahler Jugendorchester
Jakub Hrůša, Leitung

 

Tenebrae Choir © Sim Canetty-Clarke

 

Klänge, so klar und schwebend, als kämen sie direkt vom Himmel, dann wieder so gewichtig und eindringlich, als spräche das Weltgericht ein Machtwort: Unter der Leitung von Nigel Short, einem ehemaligen Mitglied der King’s Singers, präsentieren die exzellenten Sänger des Kammerchores Tenebrae aus London eine Gesangskultur in Perfektion, lupenreiner Intonation und herausragender Vokaltechnik. 2021 widmete das Rheingau Musik Festival dem mehrfach preisgekrönten Chor einen Fokus, in dem die Vokalisten ihr breitgefächertes Repertoire präsentierten. Nach der überwältigenden Resonanz des Publikums kehrte der Chor im letzten Sommer mit gleich zwei Konzerten in den Rheingau zurück. Diesen Sommer zeichnen wir das Spitzenensemble mit dem Rheingau Musik Preis 2023 aus. Darüber hinaus widmen wir ihm am 22. Juli eine lange Nacht der Chormusik, „eine künstlerische und sängerische Mammutleistung, die einmal mehr unterstreicht, warum der Chor zur absoluten Weltspitze gehört“, wie es aus der Urteilsbegründung der Jury heißt.

Tenebrae Choir © Chris O´Donovan

„Phenomenal“ (The Times) ist nur eines der vielen begeisterten Worte, die die Presse für die exquisite Chorkunst des in London ansässigen Tenebrae Choir findet. Dass Gründer und Leiter Nigel Short selbst viele Jahre Mitglied bei den King’s Singers war, hört man der Klangkultur des Chores durchaus an: Mit kristallklarer Intonation, Leidenschaft und Präsenz wissen die Sänger ihr Publikum in ihren Bann zu ziehen und die legendäre Qualität britischer Chöre hörbar zu machen. 2001 ist es, als sich Nigel Short seinen langgehegten Traum erfüllt: Er gründet einen Chor, mit dem er seine Konzeption von Vokalmusik realisieren kann. Dazu versammelt er hervorragende Sänger in seinem Ensemble, die sich etwa aus Mitgliedern der Chöre von Westminster Abbey, St Paul’s Cathedral und den Londoner Opernhäusern rekrutieren.

Short strebt danach, bei Tenebrae den raumfüllenden, leidenschaftlichen Klang der großen Kirchenchöre mit der Präzision eines kleinbesetzten Vokalensembles zu kombinieren und den Raum und das Licht in die Aufführung einzubinden: Mit einem Klang von „himmlischer Schönheit“ (Frankfurter Rundschau) avanciert der Chor binnen kürzester Zeit zum musikalischen Exportschlager Großbritanniens und einem der führenden Vokalensembles weltweit.

Das Ensemble tritt mit den renommiertesten Orchestern weltweit auf und ist mehrfacher Preisträger des BBC Magazine Award. 2013 erhält der Chor für die Aufnahme von Gabriel Faurés Requiem zusammen mit dem London Symphony Orchestra einen Gramophone Award. 2018 folgt eine Grammy-Nominierung für die CD „Music of the Spheres“.

 

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Nigel Shorts Beharrlichkeit und seiner Vision ist zu verdanken, dass Tenebrae nicht nur bekanntes Repertoire interpretiert, sondern auch mit vielen bedeutenden zeitgenössischen Komponisten zusammenarbeitet und immer wieder spektakulär Neues präsentiert: »Wir fokussieren uns nicht auf eine Zeitspanne, stattdessen singen wir neben der alten Musik auch romantische Stücke, einige aus der Barockzeit und zeitgenössische Werke. Ich liebe all diese verschiedenen Epochen und suche mir die Stücke ganz nach Gefühl aus.« Die Interpretationen des Ensembles leben vom Gespür für die Sinnlichkeit von Musik. Bekannte und unbekannte Werke werden zu einem faszinierenden Klangerlebnis, Konzerte zu einem lebendigen Hörraum, in dem besondere Klangwirkungen erzeugt werden. Mal treten Einzelstimmen, mal Stimmgruppen in Dialog – auch mit dem Raum: Wenn die Sänger im Mittelgang stehen, jede Nuance, jede Bewegung, jede Stimme, jeder Ton wahrnehmbar ist, hält das Publikum den Atem an.

Der Farbenreichtum, den Short seinem Ensemble entlockt, kennt keine Grenzen. Wenn es Perfektion im Gesang gibt, dann hier. Denn der Chor steht – zu Recht – im Ruf atemberaubender Präzision, die der Chorgründer und -leiter meisterhaft auszusteuern und auszutarieren weiß: dunkel hier, strahlend da, mal transparent, mal kraftvoll, dann wieder sanft, mit Schärfe, innig oder leuchtend, immer exakt und im idealen Zusammenklang. Daraus entsteht eindringlicher Gesang und pure Emotion. Die Arbeit an dieser Perfektion ist Nigel Shorts ganzes Leben. Auf das Gesangspodium kehrt er selbst hingegen nicht wieder zurück: »Die Mitglieder würden mir wahrscheinlich gar nicht mehr erlauben, mit ihnen zu singen. Manchmal, kurz nach der Gründung des Tenebrae Choir, sang ich einfache Parts als Bariton, mittlerweile werde ich vorne als Dirigent benötigt. Mein Gesang beschränkt sich deswegen auf Momente im Badezimmer.« Es ist ein großes Glück, die Sänger des Tenebrae Choir bei ihrer Kunst zu erleben. Allein aus der Kraft der Musik schaffen sie in ihren Aufführungen Klangräume, die die Besucher in andere Sphären heben.

Der Rheingau Musik Preis wird seit 1994 an renommierte Künstler, Komponisten und Musikwissenschaftler oder musikalische Institutionen in Anerkennung deren musikalischen Gesamtschaffens verliehen. Die durch das Rheingau Musik Festival initiierte Auszeichnung ist mit 10.000,– € dotiert. Das Preisgeld wird vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst zur Verfügung gestellt.

 

 

Konzert

K69 | 22.7 | 19. Uhr
Kloster Eberbach, Basilika

Lange Nacht der Chormusik

Lamentations: Werke von John Sheppard, Thomas Tallis u. a.
Tomás Luis de Victoria Requiem „Officium defunctorum“
When Sleep Comes: Werke von Tomás Luis de Victoria, Morten Lauridsen, Bob Chilcott und Thomas Tallis sowie Eigenkompositionen und Arrangements von Christian Forshaw
Joby Talbot „Path of Miracles“

© City Light Concerts

Text: Christoph Vratz

Womit es angefangen hat? Vielleicht mit einem Allrounder wie George Gershwin, der an einem verstimmten Klavier zu Stummfilmen die Musik gespielt hat? Oder doch eher mit Komponisten wie Erich Wolfgang Korngold, der Leinwand-Produktionen im Westen mit entsprechenden Klängen versorgt hat, oder wie Dmitri Schostakowitsch, der im Osten für Filmklassiker die Musik geschrieben hat? Filmmusik ist heute jedenfalls keine Nische mehr und ist inzwischen auch im klassischen Konzertsaal heimisch geworden. Sie ist Faszination, Verlockung, Verführung.

Das City Light Symphony Orchestra und Kevin Griffiths haben sich diesem Thema von Beginn an mit großer Hingabe gewidmet. Gegründet im Jahr 2018, handelt es sich um ein Projektorchester mit Heimat in Luzern. Eines seiner Markenzeichen: seine große Wandlungsfähigkeit. Mal tritt das Orchester in riesiger Besetzung auf, mal in fast kammermusikalischen Kleinformationen. Zu den Dirigenten, die regelmäßig mit den City Lights auftreten, zählen neben Kevin Griffiths solche, die im Umgang mit konzertanten Filmmusik-Produktionen über reichlich Erfahrung verfügen, darunter Anthony Gabriele, Ernst van Tiel und Thiago Tiberio. Gleich beim Debüt spielte man die Live-Weltpremiere von „The Hunger Games“. Weitere Erstaufführungen folgten, etwa mit „How to Train Your Dragon“ nach der Musik von John Powell oder die Europapremieren von „Cinema Paradiso“ und „Apollo 13“ und schließlich Aufführungen der John Williams-Klassiker „Indiana Jones – Raiders of the Lost Ark“ und „Home Alone“.

Die Auftritte des City Light Symphony sind nicht nur Konzerte im klassischen Modus, es sind Erlebnisse für viele Sinne. Wenn das Licht gedimmt wird und die ersten Klänge einsetzen, wenn dazu die Bilder des jeweiligen Films auf großer Leinwand erscheinen, wirkt das ganz anders als in jedem herkömmlichen Kino der Welt. Das Blech dröhnt unmittelbarer, die Streicher surren geheimnisvoller, die Holzblässer flirren irrlichternder als man es vom pauschalen Kino-Surround-Ton her kennt.

Die Luzerner haben es in der noch jungen Geschichte ihres Ensembles geschafft, der Kinomusik zu einem neuen Bewusstsein zu verhelfen. Sie ist nicht mehr nur Kulisse oder eine von vielen Zutaten zum Gesamtkunstwerk Film, vielmehr erhält die Musik eine Eigenständigkeit, die auch ihre kompositorischen Qualitäten besser erkennbar macht.

© City Light Concerts

Seit der Gründung suchte der künstlerische Leiter, Pirmin Zängerle, nach Aufnahmemöglichkeiten, um die Vorzüge dieses Orchesters zu demonstrieren. Zu den wenigen erfreulichen Nebenwirkungen der Corona-Pandemie zählte im Herbst 2020 die Chance, dieses Projekt voranzutreiben. „Spotlight on John Williams“ erschien schließlich nach zehntätigen Aufnahmesitzungen in Luzern als Debütalbum. „Wir haben uns bewusst auf die atemberaubende stilistische Vielfalt dieses Komponisten konzentriert“, so Zängerle. „Mit der Auswahl erfüllt das City Light Symphony Orchestra einen lang gehegten Wunsch.“

Beim Rheingau Musik Festival präsentieren der Klangkörper und Kevin Griffiths neben Musik von John Williams auch die berühmte Orchestersuite „The Planets“ von Gustav Holst, entstanden in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Holsts Klangwirkungen hatten erhebliche Einflüsse auf spätere Filmmusiken. Vielleicht hat die Geschichte der Kinomusik ja auch mit Gustav Holst begonnen…

Konzert

K145 | 26.8. Sa. 19 Uhr
Mainz, Rheingoldhalle

„The Planets – An HD Odyssey“

City Light Symphony Orchestra
Kevin Griffiths, Leitung

Foto © Jennifer Taylor

Vier Fragen an Tony Yun – LOTTO-Förderpreisträger 2023

Er gewinnt zurzeit alle wichtigen Auszeichnungen seines Fachs und erschließt sich aktuell in rasantem Tempo den internationalen Markt: Die Rede ist von Tony Yun. Diesen Sommer wird der junge Kanadier mit dem LOTTO-Förderpreis des Rheingau Musik Festivals ausgezeichnet. Der von der hessischen Lotteriegesellschaft seit 2009 gestiftete Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und wird im Rahmen des Preisträgerkonzerts am 13. August auf Schloss Johannisberg verliehen. Wir durften vorab ein kurzes Interview mit ihm führen.

© Guanglin

Lieber Herr Yun, beim diesjährigen Rheingau Musik Festival werden Sie Werke von Brahms, Beethoven, Busoni und Schumann interpretieren. Wie wählen Sie Ihre Programme aus und wie bereiten Sie sich auf die Programme vor?
Die Programmplanung ist für mich ein aufregender und spannender Prozess! Zu Beginn stelle ich in der Regel eine Liste mit potenziellem Repertoire zusammen, dem ich mich am meisten verbunden fühle und mit dem ich mich wohl fühle. Dann filtere ich die Liste, um ein komplettes Programm zu erstellen, wobei ich bestimmte Faktoren wie die Kohärenz, die Gesamtstruktur, den Veranstaltungsort, an dem ich spielen werde, und natürlich das Publikum, für das ich spielen werde, im Auge behalte. Was die Vorbereitung betrifft, so versuche ich, die Musik genau zu studieren und so viel und so gründlich wie möglich zu üben. Normalerweise lese ich die Kompositionsgeschichte, höre mir andere Werke desselben Komponisten an und sehe mir Manuskripte der Werke an. Im Laufe der Jahre habe ich es auch als nützlich empfunden, ohne Klavier und Partitur zu üben, denn so prägt sich die Musik in meinem Kopf ein.

Letztes Jahr haben Sie Ihr Debüt beim Rheingau Musik Festival gegeben. Wie haben Sie dieses Konzert und die Region Rheingau erlebt?
Es gibt bestimmte Orte, an denen sich Künstler dazu inspirieren lassen, 120 % ihrer selbst zu geben, und für mich gehörte der Rheingau ganz klar dazu. Die Schönheit und Gastfreundlichkeit des Rheingaus hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Die einzigartige Festivalatmosphäre hat dazu beigetragen, dass ich entspannt und inspiriert musizieren konnte. Und das wiederum hat dazu geführt, dass ich auf ganz natürliche Weise mit meinem Publikum interagieren konnte.

Sie haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ist die Musik auch Ihr Ausgleich im Alltag oder gibt es andere Aktivitäten, die Ihnen einen Ausgleich bieten?
Von klein auf hatte ich eine besondere Liebe zur Musik, und die meiste Zeit außerhalb der Schule habe ich mit Musik verbracht. Als ich aufwuchs, war Musik mein Zufluchtsort und mein Ausgleich. Diese Leidenschaft für Musik führte später dazu, dass ich eine professionelle Karriere anstrebte und sie zu meinem Lebensmittelpunkt machte. Jetzt, da ich älter werde, finde ich zusätzlich zu dieser anhaltenden Liebe zur Musik meinen Ausgleich durch die Erfüllung und den Sinn, den die Musik mir gibt. Diese Erfüllung ergibt sich aus der Vielfalt an hervorragender Musikliteratur, die ich zu meinem großen Glück entdecken und täglich in meinem Beruf bearbeiten kann. Und der Sinn ergibt sich daraus, dass ich die Werke zu den Menschen bringe, mich auf diesem Weg mit dem Publikum verbinde und dabei die Musik im Heute sprechen lasse, während ich es gleichzeitig mit der Vergangenheit in Einklang bringe.

© Jennifer Taylor

Welche Ziele und Meilensteine wollen Sie in Zukunft noch erreichen? Worauf arbeiten Sie hin?
Ich habe viele kurz- und langfristige Ziele, auf die ich mich sehr freue. Ein kurzfristiges Ziel ist, dass ich die vielen Werke, die auf meiner Bucket List stehen, lernen und aufführen möchte. Zurzeit belege ich etwa in der Schule einen geisteswissenschaftlichen Kurs, in dem es um Dantes Inferno geht, und das hat mich dazu inspiriert, mich auch mit Liszts Dante-Sonate zu beschäftigen. In den letzten Jahren habe ich auch ein Interesse am Dirigieren entwickelt, was sich als hilfreich erwiesen hat, weil das Dirigieren mir ermöglicht, eine Vielfalt an Klängen und Nuancen jenseits des Klaviers zu entdecken. Mein größtes langfristiges Ziel ist es, meinen Teil dazu beizutragen, mehr Menschen in Konzertsäle mit klassischer Musik zu bringen und die Musik auch in die Ecken der Welt zu tragen, wo der Zugang zu dieser Musik (noch) nicht oder nur eingeschränkt möglich ist.

Konzert

K 125 | 13.8. | So. 19 Uhr
Schloss Johannisberg, Fürst-von-Metternich-Saal

Tony Yun Klavier

Johannes Brahms Thema und Variationen d-Moll op. 18b
Richard Wagner/Franz Liszt Isoldes Liebestod aus „Tristan und Isolde“ S. 447
Ludwig van Beethoven Klaviersonate f-Moll op. 57 „Appassionata“
Ferruccio Busoni Berceuse aus Elegien BV 249
Robert Schumann Sinfonische Etüden cis-moll op. 13