Der Windsbacher Knabenchor singt in seinem diesjährigen Gastspiel im Rheingau Musik Festival Musik aus sieben Jahrhunderten. Das Besondere an diesem Programm ist, dass die Motetten fast alle ausschließlich für Knabenchor geschrieben wurden – eines davon ist sogar eine spannende Auftragskomposition der Windsbacher. Doch die Klangzauberer aus Mittelfranken wissen die Zeichen der Zeit zu deuten und pochen auf Gleichberechtigung der Geschlechter: Künftig sollen auch die Mädchen glänzen dürfen, die dafür ab dem kommenden Schuljahr im Windsbacher Mädchenchor singen. Über das Projekt sprachen wir mit dem Künstlerischen Leiter Ludwig Böhme.

Herr Böhme, wieso soll es in Windsbach bald auch einen Mädchenchor geben?
Weil wir überzeugt davon sind, dass die musikalische Ausbildung und Talentförderung, die wir mit den Jungs in diesem Knabenchor machen, etwas Wichtiges und Gutes sind. Und weil wir in Windsbach den Anspruch und die Vision im 21. Jahrhundert haben, allen Kindern eine so gute Ausbildung anbieten zu können. Bei den Jungs läuft das gut – warum soll das bei den Mädchen nicht auch funktionieren? Wir haben einen wunderbaren weitläufigen, schönen Campus und damit die räumlichen Möglichkeiten.

Was hat Windsbach von einem Mädchenchor?
Wir wollen und werden den Knabenchor ja so fortführen, wie wir es gewohnt sind und womit wir ja auch sehr erfolgreich sind. Wir ergänzen ihn und bekommen dadurch zusätzlich auch Synergien.

Ludwig Böhme © Katharina Gebauer

Für uns als Windsbacher Campus ist es natürlich auch eine gute Perspektive, wenn wir mit einem zusätzlichen Klangkörper in der Szene vertreten sind. Hinter allem steht aber wirklich eine Haltung: dass Mädchen die gleiche Chance bekommen sollten, eine so hochwertige Ausbildung zu bekommen. Das wollen wir und das ist letztendlich auch der Antrieb.

Wie sehen denn Resonanz und Interesse bislang aus?
Die Resonanz ist äußerst positiv. Wir wünschen euch alles Gute und ich hätte meine Mädchen gerne zu euch gegeben, wenn es das früher schon gegeben hätte – solches Feedback bekommen wir von Eltern. Auch in der Kulturberichterstattung es als zeitgemäßes, wichtiges und gutes Signal aufgefasst worden. Es gibt nur sehr vereinzelt kritische Stimmen.

Woher kommen die denn?
Einige sehr wenige sehen es als „Einzigartigkeit“, dass auf unserem Campus nur Jungs zusammenleben und sehen die Perspektive, den Campus für Mädchen zu öffnen kritisch, weil dies die Gemeinschaft der Jungs beeinflusst. Begeistert bin ich, wie gut unsere aktiven Chorsänger die Mädchenpläne aufnehmen. Natürlich sind einige etwas verunsichert, was sich für sie ändern wird. Aber alle begegnen den Plänen mit großer Offenheit und sind positiv gespannt!

Wie sieht denn das Interesse der Mädchen bislang aus?
Auf die Bekanntgabe Ende November folgte eine äußerst positive Öffentlichkeitsresonanz im Dezember und erste Anrufe gingen ein. Wir hatten am selben Tag der Pressekonferenz unsere erste „Klangfängerin“ in einer der gleichnamigen Nachwuchsgruppen. Und vor allem im Januar gab es deutlich verstärkt Anfragen für Eignungsvorsingen. In vielen unserer Klangfänger-Gruppen singen jetzt Mädchen.

Ludwig Böhme & Claudia Jennings © Maria Kapitza

Mit wem wird die Position nun besetzt?
Die Leiterin des Windsbacher Mädchenchors wird Claudia Jennings aus Berlin, die derzeit an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Halle/Saale Dirigieren unterrichtet sowie Leiterin der Chorschule Leo Borchard sowie des Landesjugendchores Brandenburg ist. Das Interesse an dieser Stelle war übrigens groß, es gab 20 sehr spannende Bewerbungen. Wir hatten also eine wirklich sehr interessante Auswahl, was die Entscheidung nicht leicht machte. Vier Persönlichkeiten haben wir eingeladen, um mit den Jungs zu proben und sich einem Bewerbungsgespräch zu stellen. Unsere Wahl fiel auf Claudia Jennings und ich und wir alle in Windsbach freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit.

Ein neuer Chor kostet Geld und davon hat eine Einrichtung wie der Windsbacher Knabenchor ja chronisch zu wenig. Wie wird das Projekt Mädchenchor finanziert?
Das Projekt Mädchenchor hat dazu geführt, dass wir eine Aufstockung unserer Zuschüsse der Evangelischen Landeskirche Bayern erhalten, weil die absolut hinter diesem Konzept steht. Natürlich kostet die Gründung des Mädchenchors etwas Geld, aber verglichen mit unserem Gesamthaushalt sehr wenig. Und wenn im Internat mehr Kinder leben, senkt das ja die Fixkosten pro Kind. Die Synergien überwiegen bei Weitem. Wir haben natürlich gerechnet und verschiedene Szenarien erstellt. Das haben wir mit der Evangelischen Landeskirche abgestimmt. Eine Finanzierungsgarantie für alle Ewigkeit gibt es allerdings nie …

Auch die Kirche klagt ja über sinkende Einnahmen …
… und überlegt daher sicher doppelt, wie sie Gelder verteilt. Die Finanzprobleme der Kirche sind ja bekannt. Aber es ist doch durchaus ein Bekenntnis der Landeskirche gerade in Zeiten knapper Kassen, dass sie jetzt und hier sagt: An dieses Projekt glauben wir so, dass wir da eben auch Geld investieren. Die gesellschaftliche Relevanz unserer Einrichtung ist ja viel größer, wenn es ein Angebot für alle Kinder gibt. Und das kommt letztendlich auch der Landeskirche zugute.

Als das Projekt Mädchenchor angekündigt wurde, war von einem neuen inhaltlichen musikalischen und pädagogischen Kapitel in Windsbach die Rede. Wie sieht das im Einzelnen aus?
Dass ein Mädchenchor ein ganz anderes künstlerisches Profil hat als ein Knabenchor, liegt natürlich an der Besetzung, weil hier nur die hohen Stimmen, also Sopran und Alt singen. Deswegen gibt es für Mädchenchöre ein ganz anderes und vor allem jüngeres Repertoire, was zwangsweise deutlich weniger Tradition hat als das Knabenchor-Repertoire. Das der Mädchen findet also eher in der Gegenwart statt. Daher ist es eine spannende Sache, wie der Windsbacher Mädchenchor die Chorszene prägen wird. Kurz gesagt: Der Knabenchor lässt letztendlich eine musikalische Tradition lebendig bleiben und entwickelt sie gleichsam weiter; der Mädchenchor geht aufgrund der anderen historischen Ausgangslage andere Wege. Natürlich wird es pädagogisch ein neues Lebensgefühl hier auf dem Campus geben, wenn Jungs und Mädchen gemeinsam hier leben. Für den Anfang haben wir für die Mädchen eines unserer schönsten Häuser reserviert, die „Villa Grün“, ein lichtdurchflutetes, modernes Gebäude. Im ersten Jahr, wenn die Gruppe der Mädchen noch eine kleinere sein wird, soll sich eine Gruppe formen, die die Mädchen als Chorgemeinschaft zusammenwachsen lässt. Für die Zukunft haben wir verschiedene Konzepte erarbeitet und werden sehen, welches sich am besten eignet. Wir wollen dabei auf jeden Fall ein Stück Flexibilität und Praxisnähe behalten. Es ist noch nicht alles im Stein gemeißelt.

Wird es denn zwei vollkommen getrennte Ensembles geben oder sind irgendwann auch gemeinsame Projekte angedacht?
Beide Chöre sollen als eigene Klangkörper ihr eigenes Profil entwickeln und treten im Prinzip eigenständig und unabhängig voneinander auf. Aber natürlich soll es auch Berührungspunkte geben. Gemeinsame Projekte mit Knaben- und Mädchenchor sind auf jeden Fall angedacht, aber punktuell, als Besonderheit. Das eröffnet uns ja insgesamt als Windsbacher Chor-Campus auch nochmal eine größere Repertoire-Vielfalt in puncto Chorsinfonik. Im Zusammenspiel auch mit ehemaligen Windsbachern werden wir irgendwann unsere Chorgrößen so variieren können, dass uns ein Repertoire zur Verfügung steht, das der Knabenchor alleine nicht bieten könnte.

Erste Auftritte und Konzerte des neuen Mädchenchors sind in diesem Stadium wortwörtlich noch Zukunftsmusik. Dennoch gibt es da ja sicherlich schon Planspiele. Wie sehen die aus?
 Jetzt kommt erst mal ein erster Jahrgang von Mädchen. Im darauffolgenden Schuljahr kommen dann nochmal neue dazu und das Fundament des Mädchenchores wird tragfähig. Wir wollen uns hier noch nicht festlegen – einerseits wollen wir in Windsbach unserem hohen qualitativen Anspruch gerecht werden und uns daher nicht verfrüht präsentieren, andererseits brauchen die Mädchen Auftritte, an denen sie wachsen und sich als Gemeinschaft entwickeln können. Die öffentliche Präsentation des Windsbacher Mädchenchors als Konzertchor auf einer Bühne mit eigenständigen Programmen, also so wie man den Knabenchor auch erlebt, braucht sicherlich ihre Zeit. Und dennoch können wir ja den Mädchenchor hier nicht einfach nur im Probenraum stattfinden lassen, ohne dass sie sich mal zeigen, das Erarbeitete präsentieren und auch Bühnenerfahrung sammeln. Da wird es sicherlich Zwischenstufen geben.

Claudia Jennings © Uwe Hauth

Wie alt sollten die Mädchen denn sein, wenn sie im Windsbacher Mädchenchor singen wollen?
Interessentinnen im Grundschulalter können sich bei den Klangfängern anmelden und wir sprechen vorrangig Mädchen von der vierten bis zur sechsten Klasse an. Aber es gibt auch schon Anfragen von älteren Mädchen, die gerne kommen wollen. Wir nehmen natürlich auch Quereinsteigerinnen. Die Besetzung soll durchaus altersgemischt sein: vierte bis siebte Klasse, so dass sich die Jahrgänge dann sukzessive auffüllen. Das gibt dem Ganzen ein stabiles Fundament.

Haben Sie denn keine Angst, dass die beiden Chöre irgendwann einmal in Konkurrenz zueinander treten?
Sollte man davor Angst haben? Also ich habe da überhaupt keine Befürchtungen, sondern bin ganz im Gegenteil gespannt, wie sich das gruppendynamisch entwickelt. Wir müssen hier ja langfristig denken: Eine Konkurrenz kann bestenfalls über Jahre wachsen, wenn der Mädchenchor da eine erfolgreiche Karriere hinlegt. Und das freut mich natürlich als Künstlerischer Leiter dieses Windsbacher Chor-Campus‘, weswegen ich eigentlich nicht von Konkurrenz sprechen möchte. Aber natürlich werden sich beide Chöre sehr genau beobachten, weil sie hier ja auch miteinander in Kontakt sein werden. Und das kann aber, glaube ich, beiden Ensembles nur nützen. Also ich sehe dem freudig entgegen.

 

Das Gespräch führte Jan-Geert Wolff

 

Header © Katharina Gebauer

Zum 38. mal findet der Sommer voller Musik in diesem Jahr statt. Seit fast 30 Jahren ist LOTTO Hessen als Partner an der Seite des Festivals, seit nunmehr 20 Jahren sogar als Hauptsponsor. Ein schönes Jubiläum, anlässlich dessen Martin Blach, Sprecher der Geschäftsführung von LOTTO Hessen, sich über das Engagement beim Rheingau Musik Festival gerne äußerte.

Herr Blach, seit dem Jahr 2009 stiftet Ihr Unternehmen jährlich den LOTTO-Förderpreis. Warum?

Der LOTTO-Förderpreis ist einer der höchstdotierten Nachwuchskünstlerpreise in Deutschland. Damit zeichnen wir jährlich junge Talente aus der Musikszene aus, um sie auf ihrem Weg in die Spitze der Musik zu begleiten. Wir wollen ihnen Mut machen, aber zugleich auch danke sagen für bisher Geleistetes. Denn sich ganz und gar der Musik zu verpflichten, und das in jungen Jahren, fordert schon sehr viel Mut, Disziplin und vielerlei Entbehrungen. Diese Nachwuchstalente stehen für die Zukunft. Und diese liegt uns ganz besonders am Herzen. Daher nehmen wir jährlich 15.000 € in die Hand – ein Betrag, der komplett an die jungen Musikerinnen und Musiker geht. Damit sind über die Jahre viele Solistinnen und Solisten, aber auch Ensembles oder junge Dirigentinnen und Dirigenten ausgezeichnet worden.

Jeder Tipp ein Gewinn für Hessen: Martin Blach, LOTTO Hessen

Wie vertragen sich Musikförderung und Glücksspiel eigentlich, was führt sie zusammen?

Wir bei LOTTO Hessen verstehen uns als Partner der Kultur. Dabei darf man unterscheiden: Zum einen fließen jährlich 20 Prozent eines jeden bei LOTTO Hessen gespielten Euros in die Förderung von Kultur, Sport, Sozialem sowie in den Umwelt- und Denkmalschutz. Seit unserer Gründung vor nunmehr rund 75 Jahren sind über diesen Weg bereits mehr als sechs Milliarden Euro für das hessische Gemeinwohl zusammengekommen. Eine stolze Summe, wie ich finde. Ferner können wir in weit kleinerem Maße auch im Sponsoring noch Gutes tun, wie etwa beim Rheingau Musik Festival. Bei alldem gilt natürlich: Wir müssen das Geld erst einmal verdienen, bevor wir es für gute Zwecke stiften können.

Worauf freuen Sie sich in der Festivalsaison 2025 besonders?

Natürlich blicken wir wieder gespannt auf die Jurysitzung beim LOTTO-Förderpreis, der 2025 zum dann 17. Mal verliehen wird. Ich bin sicher, dass auch diesmal die Entscheidung wieder schwerfallen wird, sich auf eine Gewinnerin oder einen Gewinner zu einigen. Denn jährlich steht schon eine ganz besondere Riege an Ausnahmetalenten zur Wahl. Und dann freuen wir uns im 20. Jahr unserer Funktion als Hauptsponsor des Festivals natürlich auf gemeinsame und unvergessliche Musikerlebnisse.

 

 

Interessiert? Erfahren Sie mehr über die langjährige Partnerschaft von LOTTO Hessen und dem Rheingau Musik Festival.

Ihre Wirkungsstätte ist die Bühne, ihr Werkzeug bloße Mimik und Gestik: Dirigentinnen und Dirigenten sind Visionäre, Vermittler und Führungspersonen in einem. Sie inspirieren und schaffen Brücken zwischen den Musikzierenden und dem Publikum, indem sie Emotionen hervorrufen und Geschichten durch die Musik erzählen. In vier Konzerten präsentiert Andrés Orozco-Estrada dem Publikum des diesjährigen Rheingau Musik Festivals diese besonderen Fähigkeiten.

Sie sind in Kolumbien geboren, als junger Erwachsener nach Wien gezogen und durch Ihre Engagements in der ganzen Welt unterwegs. Sie haben sicherlich schon so vieles von dieser Welt gesehen, doch wo, würden Sie sagen, ist Ihre Heimat? Gibt es einen bestimmten Ort, an dem Sie am liebsten Dirigieren?

Einen bestimmten geografischen Ort als meine Heimat zu bezeichnen, ist nicht möglich. Wenn ich eine geliebte Stadt nennen würde, müsste ich sofort auch weitere Städte aufzählen. Ich habe ein wunderbares Zuhause, wo ich mit meiner Familie lebe. Aber meine wirkliche Heimat ist doch die Musik, mit der ich die meiste Zeit meines Lebens verbringe. Die Musik ist das Einzige, was ich immer bei mir habe und was mich emotional sehr bewegt – darum würde ich dieses Gefühl, diese Beziehung als meine Heimat bezeichnen.

 

Der Berufswunsch des Dirigenten ist kein weit verbreiteter. Wie kamen Sie auf die Idee, einmal große Klangkörper leiten zu wollen? Stand diese Vision schon in Ihrer Kindheit fest?

Freude an der musikalischen Bewegung, am Dirigieren, hatte ich schon als kleines Kind. In unserem Wohnzimmer habe ich auf einem Kassettenplayer die „Kleine Nachtmusik“ von Mozart gespielt und dazu herumgefuchtelt und irgendwelche Dinge dazu geplaudert. Als Taktstock habe ich einen Teil der Antenne unseres Fernsehers abgeschraubt, das ging ganz leicht. Auch in meiner Schule war Musik sehr wichtig, wir haben wirklich viel gehört und gesehen, so auch Videos von berühmten Dirigenten, zum Beispiel von Carlos Kleiber und Leonard Bernstein. Irgendwann habe ich begonnen, sie zu imitieren und hatte damit schon bald die Aufmerksamkeit der Klasse gewonnen – Karajan spielte dann keine Rolle mehr, sondern eher die Frage: Wie macht Andrés den Karajan nach?

In einem Kammermusikensemble in der Schule habe ich in der Vergangenheit noch Geige gespielt – und auch dort habe ich begonnen, meine Dirigierspäße zu machen. Das hat dann meinen Lehrer doch irritiert und er sagte: „Gut, wenn du so viel Spaß am Dirigieren hast, dann kannst Du morgen gleich die Probe übernehmen!“ Er wollte mich damit sicher einschüchtern, aber ich habe am nächsten Tag tatsächlich die Probe dirigiert und ich glaube, es ist ganz gut gelungen. Der Lehrer war jedenfalls zufrieden und ließ mich weitermachen, bis ich dann beim Schulabschluss ein Konzert dirigierte.

Woher meine Freude am Dirigieren ganz genau kam, weiß ich nicht. Sie war einfach immer schon in mir und es hat mir immer unglaublich viel Freude gemacht. Dieses „Urgefühl“ möchte ich mir immer bewahren.

 

Sie sind damals als junger Erwachsener nach Wien zum Studieren gegangen, haben eine ganz neue Kultur kennengelernt und dabei Ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Hatten Sie damals eine oder mehrere musikalische Bezugspersonen, die Sie auf dem Weg unterstützt und geprägt haben? Was würden Sie jungen, angehenden Dirigenten und Dirigentinnen mit auf ihren Weg geben?

Als ich nach Wien zum Studieren kam, hatte ich nichts zu verlieren und musste auch nichts fix im Auge behalten. Ich hatte das große Privileg, unvoreingenommen lernen zu dürfen, mein Wissen und Können zu vertiefen. Das geht nur, wenn man sich öffnet. Auf diesem Weg gab es viele Menschen, die ich sehr inspirierend fand: Es gab eine Dirigentin in Kolumbien, die mit uns Jugendlichen wunderbar umgegangen ist. Natürlich war und ist meine Mutter sehr wichtig für mich. Sie hat mich ganz entscheidend als Mensch geprägt, der ich als Dirigent ja auch bin. Es haben immer wichtige und inspirierende Begegnungen stattgefunden, ob im Studium, im Musikleben oder einfach draußen in der Welt. Doch damit ich jemanden als inspirierend empfinden kann, muss ich mich auch selbst dafür interessieren, inspiriert werden zu wollen. Es sind also immer zwei Menschen beteiligt. Ein Bewusstsein dafür würde ich jungen Kolleginnen und Kollegen ans Herz legen. Voraussetzung dafür ist aber immer, dass man zu sich selbst ganz ehrlich ist und sich einige fundamentale Fragen stellt: Will ich diesen Beruf wirklich ausüben? Bin ich bereit, alles zu tun, was es dafür braucht? Und die wahrscheinlich schwierigste Frage ist: Habe ich wirklich etwas anzubieten? Wie gleiche ich Schwächen aus, wie setze ich meine Stärken am besten ein? Für junge Menschen, die am Beginn ihrer Karriere stehen, halte ich den ganz ehrlichen Umgang mit diesen Fragen für entscheidend.

© Werner Kmetitsch

Dem Dirigieren gehen eine präzise Technik und ein umfangreiches musikhistorisches Wissen voraus. Persönliches und der eigene Geschmack spielen bei der Erarbeitung eines Programms sicherlich ebenso eine Rolle wie die Entstehungsgeschichte des Werkes und biografische und kompositorische Aspekte. Was steht bei Ihnen an erster Stelle? Wie gehen Sie mit diesen vielen Einflüssen um?

Ich denke nicht, dass etwas an erster Stelle stehen muss. Alle diese Aspekte (und noch viele andere) sind wichtig. Wie sie gewichtet und geordnet werden, entscheidet sich aus der jeweiligen Situation heraus. Die Konzentration richtet sich immer auf das, was gerade nötig ist – da gibt es nicht wirklich eine Hierarchie für mich.

Wenn Sie ein Programm nach Belieben auswählen könnten, unabhängig von jeglichen äußeren Kriterien, Vorgaben oder Einflüssen, wie würde es aussehen? Was sind Ihre absoluten Lieblingswerke beim Dirigieren?

Die Antwort ist hier ganz ähnlich wie zuvor: Es ist ein großes Geschenk, dass ich das nicht entscheiden muss. Ich habe keine Lieblingswerke oder Lieblingskomponisten. Wenn ich heute ein Herzensstück nennen würde, kann es in der nächsten Woche schon ein anderes sein. Und nicht zu vergessen: Zu unterschiedlichen Orchestern, Orten und Bühnen passen auch unterschiedliche Programme. Ich lebe und mache Musik immer in einem „Kontext“, damit habe ich kein Problem – im Gegenteil: Ich liebe das! Wenn sich ein Veranstalter oder ein Orchester ein bestimmtes Stück wünscht, dann kann man von diesem Punkt aus weitergehen und etwas entwickeln. Aber es wird immer ein anderes Ergebnis dabei herauskommen.

 

Als ehemaliger Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters haben Sie viele Jahre lang das Eröffnungskonzert des Rheingau Musik Festivals dirigiert. Wie haben Sie diese Konzerte wahrgenommen? Gibt es besondere Momente, an die Sie sich gerne zurückerinnern?

Die Eröffnungskonzerte des Rheingau Musik Festivals habe ich stets sehr genossen, das waren immer sehr außergewöhnliche Abende. Das Kloster Eberbach hat eine ganz einzigartige Akustik und Atmosphäre, und es ist sowieso jedes Mal etwas ganz Besonderes, ein Festival zu eröffnen. Von diesen besonderen Momenten gibt es sehr viele, und ich habe sie in guter Erinnerung. Hier etwas herauszugreifen, fällt mir schwer. Es ist vielmehr die Stimmung, die ich immer sehr gern mag.

Dieses Jahr sind Sie als Fokus-Künstler mit anderen, ebenso bedeutenden Klangkörpern auf der Bühne. Wie unterscheidet sich die Arbeit als Chefdirigent eines Orchesters zu Konzerten mit Klangkörpern, mit denen Sie nur gelegentlich zusammenarbeiten? Spielen die Rahmenbedingungen eines Konzerts mit einer so langjährigen Erfahrung, wie Sie sie bereits haben, überhaupt noch eine Rolle?

Äußere Umstände spielen natürlich eine gewisse Rolle. Was die Arbeit mit unterschiedlichen Orchestern betrifft, so ist jede Begegnung sehr wichtig, egal ob es die erste oder die hundertste ist. Idealerweise – und ich formuliere das gerne etwas „romantisch“ – ist ein gemeinsames Konzert mit einem mir bestens vertrauten Orchester jedes Mal genauso aufregend und inspirierend wie die erste Probe mit einem Orchester, mit dem ich vorher noch nie zu tun hatte. In gleicher Weise würde ich auch nicht gewichten, ob ein Gespräch mit einem alten Freund besser oder wertvoller für mich ist als ein erstes Kennenlernen mit jemand Fremden.

„Ich habe immer gespürt, dass mich die rhythmische Energie und die kraftvolle Klangwelt unglaublich faszinieren. Musikalisch interessant sind die rhythmischen Elemente, aber die eigentliche Herausforderung ist wahrscheinlich, das „pralle Leben“ in diesem Stück herauszuarbeiten.“

– über Carl Orffs „Carmina Burana“

Dieses Jahr präsentieren Sie auf der Bühne von Kloster Eberbach Carl Orffs „Carmina Burana“ gemeinsam mit dem Gürzenich-Orchester Köln, das Sie schon bald als Generalmusikdirektor der Stadt Köln leiten werden. Was verbinden Sie mit diesem Werk? Gibt es bestimmte Herausforderungen, die das Werk mit sich bringt?

In Kolumbien habe ich im Kinderchor oft die „Carmina Burana“ gesungen. Jedes Jahr wurde das Stück in meiner Geburtsstadt Medellín einmal gespielt, der Saal war dabei immer voll. Worum es sich bei diesem Werk gehandelt hat, habe ich gar nicht so richtig verstanden. Aber ich habe immer gespürt, dass mich die rhythmische Energie und die kraftvolle Klangwelt unglaublich faszinieren. Musikalisch interessant sind die rhythmischen Elemente, aber die eigentliche Herausforderung ist wahrscheinlich, das „pralle Leben“ in diesem Stück herauszuarbeiten – wie geht man mit den liebevollen Momenten, der Zärtlichkeit, den Übertreibungen, dem Grotesken und den kleinen absurden Dingen bestmöglich um? Ich habe die „Carmina Burana“ als Kind in Kolumbien ganz frei vom politisch-historischen Kontext lieben gelernt, und ich freue mich sehr darauf, dieses große Wunderwerk aufzuführen.

 

Worauf freuen Sie sich bei Ihren Konzerten beim Rheingau Musik Festival und worauf darf das Publikum bei Ihren Interpretationen im kommenden Sommer besonders gespannt sein?

Das führt mich wieder zur allerersten Frage zurück: Ich freue mich auf ein Wiedersehen und Wiederhören beim Rheingau Musik Festival, einer „Heimat“ von mir! Wir haben viel vor und werden sehr unterschiedliche Stücke aufführen, die „Carmina Burana“, die Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und noch viel mehr. Und ich hoffe, dass sich unser Publikum darauf freut, diese Musik mit uns zu erleben.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Headerfoto © Julia Wesely. Das Interview führte Franziska Jung.

Von Anfang an wusste Thibaut Garcia, wo er hinwollte: mit der Gitarre auf die klassischen Bühnen der Welt. Dabei erforscht er mit großer Neugierde verschiedene Stile und präsentiert auch beim Rheingau Musik Festival eine große Bandbreite an unterschiedlichen Konzertprojekten.

Schon von klein auf spielen Sie Gitarre. Haben Sie sich bewusst für das Instrument entschieden? Was macht die Gitarre für Sie zu einem so besonderen Instrument?

Ich wollte schon mit sechs Jahren anfangen Gitarre zu spielen und fragte meine Eltern, ob sie es mir beibringen könnten, weil sie selbst Gitarre spielen. Doch als Amateur-Autodidakten konnten sie das nicht. Aber ich habe sie jeden Tag gefragt und sie haben mich schließlich, als ich sieben Jahre alt war, in eine Musikschule gesteckt, um mit dem Unterricht anzufangen. Ich kann sagen, dass ich damals bereits entschlossen war.

 

Die Gitarre verbindet man häufig mehr mit Popularmusik als mit klassischer Musik. Was hat Sie dazu bewogen, eine professionelle Karriere als klassischer Gitarrist einzuschlagen? Haben Sie jemals in einer Band oder einer ähnlichen Formation gespielt?

Ich fing mit der klassischen Gitarre an und wollte nie wirklich woanders hin. Ich habe das Gefühl, dass das klassische Repertoire einen so romantischen und ausdrucksstarken Touch hat und bei mehr als 400 Jahren Musik auch eine tiefgreifende Perspektive der Erkundung bietet. Ein Leben reicht nicht aus, um alles zu erforschen. Das ist es, was mich dazu gebracht hat, diesen Beruf zu ergreifen.

© Warner Classics Erato/Simon Fowler

Sie widmen sich mit großer Leidenschaft vor allem auch Komponisten und Genres abseits des klassischen Kanons. Erfordert die Erarbeitung dieser Werke eine andere Herangehensweise als die Auseinandersetzung mit bekannten Werken oder gibt es dabei für Sie keine Unterschiede?

Ich bin sehr offen für Musik, als Zuhörer und auch als Gitarrist. Wenn ich also etwas anderes als den klassischen Kanon spiele, ist das immer eine Entdeckung für mich und ich glaube, dass wir Musiker neugierig sein müssen. Solch eine Neugierde ist für mich die beste Eigenschaft eines Musikers. Einen populäreren Stil zu spielen oder zum Beispiel einen Popsänger zu begleiten, ist etwas anderes. Es ist ein Sprung in eine andere Kultur, eine Kultur des Klangs, der Bühne, der Phrasierung. Auch in der zeitgenössischen Musik müssen wir etwas anderes, etwas Aktuelles, Lebendiges einbringen. Die Identität der Gitarre ist so vielfältig, dass sie für mich wie ein Chamäleon ist, das neue Codes, neue Farben und eine neue Art des Hörens und Imaginierens präsentieren kann.

Sie sind spanisch-französischer Abstammung und haben Ihr Leben lang in Frankreich verbracht. Ist das der Grund, warum Sie sich vor allem für die südeuropäische Musik interessieren? Was ist es, dass Sie an dieser Musik besonders fasziniert?

Ein französischer Sänger aus Toulouse namens Claude Nougaro sagte einmal: „Spain pushes its horn in Toulouse.“ Und Südfrankreich ist tatsächlich mit Spanien verbunden, so wie ich es aufgrund meiner Vorfahren bin. Und ist man einmal mit der spanischen Kultur in Berührung gekommen, lässt sie einen nicht mehr los. Jedes Mal, wenn ich verschiedene Projekte mache und dabei keine spanische Musik spiele, gibt es immer einen Moment, in dem ich zu ihr zurückkehre. Einfach weil ich sie brauche. Sie ist ein Teil meines Wesens. Und die Geschichte der Gitarre ist über die Jahrhunderte hinweg eng mit Frankreich, Spanien und Italien verbunden.

 

In Ihrem Album „El Bohemio“ widmen Sie sich dem paraguayischen Komponisten und Gitarristen Agustín Barrios. Wie kommt die Verbindung zu diesem Komponisten und warum haben Sie sich entschieden, seiner Musik ein ganzes Album zu widmen?

Mein Album „El Bohemio“ ist das erste, das ich komplett einem Komponisten gewidmet habe. Hier bin ich wirklich tief in das Thema eingetaucht. Agustín Barrios ist wie Chopin für einen Pianisten oder Paganini für einen Geiger. Jeder Gitarrist kennt ihn. Aber ich habe ihn für mich entdeckt, noch bevor ich selbst Gitarre gelernt habe, weil mein Vater „La Catedral“ von Agustín Barrios gespielt hat – ein herausragendes Werk. Vor ein paar Jahren sollte ich dann etwas ganz anderes aufnehmen. Und eines Tages, an einem Sonntag zu Hause, begann ich aus Spaß das Gesamtwerk von Barrios zu lesen und ich spürte innerlich, dass es genau das war, was mich bewegte. Ich fühlte eine große Verbindung zu seiner Musik. Außerdem begann ich, über den Komponisten zu lesen. Er ist so eine Person, die einen in seine Träume mitnimmt, entlang seiner Musik. Sein Leben ist ein reiner Roman, voll von Geschichten. Ich habe das Projekt also komplett geändert und mich zu 100% auf Agustín Barrios und „El Bohemio“ eingelassen. Für mich ist er ein prägender Komponist und Gitarrist in der Geschichte des Instruments. Ich kann sagen, dass er heute der Segovia Lateinamerikas ist. Er ist eine echte Inspiration.

 

Sie sind sowohl als Solist mit großen Orchestern als auch in intimer Kammermusikbesetzung zu erleben. Wie unterscheiden sich diese Arten des Musizierens für Sie? Bevorzugen Sie eine davon?

Es sind drei verschiedene Dinge, mit einem Orchester zu spielen, ein Solokonzert zu geben oder in einer Kammermusik-Formation aufzutreten. Es ist schwer zu sagen, ob ich eines davon bevorzuge. Denn im Orchester verspüre ich viel Adrenalin, Aufregung und Energie und ich kann zusammen mit dem Dirigenten an der Klangfarbe dieses riesigen schönen Klangkörpers arbeiten. Kammermusik hingegen ist ein echtes Vergnügen: mit Freunden auf der Bühne zu stehen, Spaß zu haben, aber auch tief in die Musik einzutauchen, wenn man gemeinsam nach dem musikalischen Zweck sucht und eine großartige Kombination findet. Es ist eine gemeinsame Energie. Und durch das Solo entsteht ein Ort, den man ganz für sich allein hat. Man wird zum Meister des Raums und der Zeit und baut eine Beziehung zum Publikum auf, die jeden Abend anders und besonders ist. Es ist eine Art des Musizierens, bei der man zwar mehr Gewicht auf den eigenen Schultern trägt, aber dafür auch mehr Freiheit hat.

Sie kommen schon seit vielen Jahren in den Rheingau, um das Publikum hier mit Ihrer Musik zu begeistern. Was macht für Sie das Rheingau Musik Festival aus? Was schätzen Sie besonders an der Region?

Das Rheingau Musik Festival ist ein ganz besonderes Ereignis, bei dem man an unglaublichen Orten wie in Kirchen, Klöstern und Konzertsälen, umgeben von Weinbergen, auftritt. Ich habe jedes Konzert hier in bester Erinnerung behalten und konnte die Großzügigkeit des Publikums spüren. Ich muss auch sagen, dass wir uns jedes Mal sehr willkommen fühlen, dank des Festivalteams und des Publikums, das berührt mich sehr! Ich bin so froh, dass ich dieses Jahr wieder hier bin, um euch und Ihnen eine ganze Palette von Farben auf der Gitarre zu zeigen. Und wie könnte man sich einem Franzosen verführerischer zeigen, als mit einer bezaubernden Weinregion und einem wunderbaren Riesling?

„Ich bin so froh, dass ich dieses Jahr wieder hier bin, um euch und Ihnen eine ganze Palette von Farben auf der Gitarre zu zeigen. Und wie könnte man sich einem Franzosen verführerischer zeigen, als mit einer bezaubernden Weinregion und einem wunderbaren Riesling?“

Dieses Jahr bringen Sie Ihre Schüler mit zum Rheingau Musik Festival. Was macht dieses Konzert so besonders? Was möchten Sie jungen Nachwuchstalenten mit auf ihren musikalischen Weg geben?

Das Konzert mit meinen Studierenden aus Toulouse ist in mehrfacher Hinsicht etwas ganz Besonderes. Denn so etwas habe ich noch nie gemacht – ein spezielles Programm nur für dieses Konzert mit meinen Schülern zu erarbeiten. Was mir dabei auch wichtig ist: Sie werden an diesem Abend nicht einen Lehrer und seine Schüler auf der Bühne sehen, sondern fünf Musiker. Ein Künstler oder ein Schüler zu sein, geschieht im Kopf. Wenn du dich als Schüler betrachtest, bist du einer. Wenn man sich als Künstler betrachtet, wird man einer. Ich freue mich sehr auf dieses Konzert, denn man wird Persönlichkeiten entdecken. Und für sie ist es eine wunderbare Gelegenheit, bei einem so unglaublichen Festival zu spielen. Wir freuen uns alle darauf, diesen Moment mit Ihnen, liebes Publikum, zu teilen. Die Ratschläge, die ich geben kann, sind: Seid neugierig, seid überzeugt, um überzeugend zu sein, und wenn ihr nicht üben wollt, spielt!

 

Worauf freuen Sie sich als Fokus-Künstler des Rheingau Musik Festivals am meisten? Und worauf darf sich das Publikum Ihrer Konzerte besonders freuen?

Das diesjährige Rheingau Musik Festival wird für mich wie ein großes Feuerwerk voller Farben und Energie innerhalb der verschiedenen Konzerte sein. Ich habe sie mir wie verschiedene Welten vorgestellt oder wie Gemälde. Und mein Ziel ist es, Sie mit auf diese unglaubliche Reise zu nehmen. Von der emotionalen Kraft des „Concierto de Aranjuez“ bis hin zur Intimität der „Goldberg-Variationen“, durch den Glanz und die Vitalität von Paganini und Piazzolla oder die zarte Hitze Südspaniens zu gehen, ist etwas Unglaubliches. Lassen Sie uns dieses Festival gemeinsam in vollen Zügen genießen!

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Headerfoto © Warner Classics Erato/Marco Borggreve. Das Interview führte Franziska Jung.

Der Musiker Martynas Levickis befreit das Akkordeon von allen Vorurteilen, die diesem Instrument so anhaften mögen. Geschickt hat er es in den letzten Jahren zum Hauptakteur auf klassischen Bühnen oder in großen Stadien gemacht. Denn für ihn gilt: Das Akkordeon ist ein Alleskönner!

Bereits in jungen Jahren begannen Sie in einem Elternhaus, das sie tatkräftig unterstützt hat, Musik zu machen. Wie haben Sie diese musikalischen Anfänge wahrgenommen? Was würden Sie jungen Musikerinnen und Musikern raten, die eine ähnliche Karriere wie Sie anstreben, aber keine Unterstützung von zu Hause erhalten?

Meine musikalischen Anfänge waren das Beste, was mir je passieren konnte. Ich hatte mein Instrument und alle Freiheiten, es zu erforschen. Es fasziniert mich bis heute und wenn ich ehrlich bin, denke ich gerade an schwierigen Tagen, wenn ich mit meiner Musik oder Leistung hadere, oft an diesen Ausgangspunkt zurück: ein kleiner Junge mit einem roten Umhang und einem Hut, der mit seinem kleinen Akkordeon auf den Schultern durch die Wälder läuft.
Es gibt viele Ratschläge, aber der Beste ist manchmal, gar keinen zu geben. Meiner Meinung nach gilt: Wenn es so sein soll, dann wird es auch so passieren. Wenn die Musik in einem selbst lebt, wird man seinen eigenen Weg finden, um dranzubleiben, hart zu arbeiten und immer nach vorne zu schauen. Selbst dann, wenn die Unterstützung fehlt.

 

Sie haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ist die Musik auch im Alltag Ihr Ausgleich oder gibt es andere Aktivitäten, die Ihnen Balance verschaffen?

Mittlerweile muss ich sagen, dass nur die Musik allein nicht ausreicht. In erster Linie muss man sich seiner Menschlichkeit bewusst sein, bevor man sich auf professionelle berufliche Fähigkeiten und Rollen konzentriert. Als reisender Musiker könnte ich mein Gleichgewicht ohne regelmäßigen Sport, Massagen, gesundes und leichtes Essen, einen guten Spaziergang oder Gespräche mit einem guten Freund oder Partner nicht aufrechterhalten. Guter Schlaf und Ruhe sind ebenfalls wichtig.

Ihre Engagements führen Sie um die ganze Welt, heute ein Konzert hier, morgen dort. Finden Sie auch gelegentlich Zeit „nach Hause“ zu kommen oder genießen Sie vor allem die Zeit unterwegs? Besuchen Sie noch oft Ihre Heimat in Litauen?

Ich bin Litauer, ganz egal, wie oft das Leben wollte, dass ich etwas anderes bin oder werde. Ich komme immer zu meinen Wurzeln zurück und ich kämpfe auch nicht dagegen an. Ich glaube, ohne einen vollen Konzert- und Reiseplan wäre ich nicht besonders glücklich, aber ich genieße auch immer meine Zeit zu Hause. Das bedeutet nicht nur zu Hause zu sein, sondern auch meine Familie und Freunde zu besuchen und Zeit in der ruhigen nordischen Landschaft zu verbringen.

© Rui Camilo

Ihr Repertoire reicht von litauischen Volksliedern über klassische Werke, bis hin zu Filmmusik, Popmusik und zeitgenössischer Musik. In Ihren Konzerten präsentieren Sie viele verschiedene Genres und verbinden diese teilweise auch miteinander. Haben Sie dennoch ein präferiertes Genre, eines, dem sie sich am meisten verbunden fühlen oder das Sie am meisten interessiert?

Die Natur meines Instruments ist der wichtigste Impulsgeber und die größte Inspiration für meine musikalischen Entscheidungen. Das Akkordeon hat eine relativ kurze Geschichte und bietet daher nur eine begrenzte Menge an Originalrepertoire. Deshalb muss ich manchmal erfinderisch werden und etwas von dem Repertoire stehlen, das eigentlich nicht für mein Instrument komponiert wurde.
Aber ich mache es mir zur Aufgabe, immer das Stück zu finden, das in erster Linie meine Seele bewegt, damit ich es mit Begeisterung erforschen und aufführen kann. Und dann geht es stets darum, das Stück so klingen zu lassen, als wäre es für mein Instrument geschrieben worden. Denn es kann niemals nur eine einfache Nachahmung vom Klang und der Spielweise anderer Instrumente sein. Bei diesem Prozess muss man sich immer des Materials und des Komponisten, mit dessen Werk man arbeitet, bewusst sein und genau das respektieren. Und dennoch: Bei einer Auswahl wie Mahlers „Adagietto“ aus der fünften Sinfonie, Chopins Walzer op. 64 Nr. 2 oder Bachs Französischer Suite Nr. 5 würden die Leute immer den Unterschied im Klang erkennen. Ein Unterschied, der vielleicht zunächst überrascht, aber dem Publikum dann immer näherkommt. Auf der anderen Seite, wenn ich zugänglichere Musik wie Pop-Arrangements oder populäre Klassiker spiele, erlange ich die Aufmerksamkeit eines anderen Publikums, das ich dann wiederrum auf andere, weniger bekannte Musikgenres lenken kann. Das funktioniert in der Regel nicht nur zu meinem eigenen Vorteil als Interpret, sondern fördert auch die Verbindung zwischen der Musik und des Zuhörenden.

 

Dem Akkordeon wird meist etwas Traditionelles, Folkloristisches zugeschrieben. Sie beweisen in Ihren Konzerten, dass dieses Instrument allerdings sehr wandelbar und vielseitig einsetzbar ist. Worin sehen Sie einen Vorteil des Akkordeons gegenüber anderen Instrumenten?

Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Philipp Emanuel Bach schrieben Briefe an Instrumentenbauer und baten darum, ein Instrument anzufertigen, das tragbar sei, den Klang über längere Zeit aufrechterhalten könne und individuelle mehrstimmige Linien erzeugen würde. Leider wurden die Instrumentenhersteller diesem Wunsch nicht gerecht, denn der erste Prototyp des Akkordeons wurde erst 1829 in Wien patentiert. Und damals war es nur ein primitiver Kasten mit wenigen Knöpfen. Heutzutage ist das Akkordeon das, wovon die Komponisten damals geträumt haben. Es ist ein eigenständiges Orchester. Es kann intim und sanft, verspielt und spritzig, aber auch majestätisch und laut sein. Und es kann das Repertoire von der Frührenaissance bis zur Musik des 21. Jahrhunderts abdecken, wobei es immer diesen aufregenden Hauch von etwas Geheimem mit sich bringt.

„Für diejenigen, die mich zum ersten Mal treffen, wünsche ich mir nur eines – dass sie sich in das Akkordeon verlieben! Das ist schließlich meine Lebensaufgabe.“

Sie scheinen immer am Puls der Zeit zu sein, sowohl musikalisch als auch in anderen Bereichen, etwa mit ihren Bühnenshows oder in den sozialen Medien. Denken Sie, dass Social Media einen großen Einfluss auf den Klassikbetrieb hat bzw. haben wird? Wie nutzen Sie diese Kanäle für sich und Ihre Konzerte?

Haben wir heutzutage eine Wahl, anders zu denken? Ich gehöre zu den Menschen, die immer noch gern Papier und Stift und eine gute, altmodische Art, Dinge zu tun, mögen. Aber da ich ein junger Mensch bin, nehme ich natürlich die Vorzüge der modernen Welt an. Und es ist toll, wenn es der Karriere hilft oder neue Konzerttermine oder Ideen bekannt macht. Meiner bescheidenen Meinung nach wird der Stellenwert der sozialen Medien ein wenig überschätzt, aber es ist unbestreitbar ein wirkungsvolles Mittel, um seine Existenz als Mensch und als Musiker darzustellen.

Als Fokus-Künstler präsentieren Sie sich und das Akkordeon in diesem Sommer sowohl im Solorezital als auch mit Orchester, an einem Duo-Abend mit Orgel, im Akkordeon-Sextett und weiteren Formationen. Wie planen Sie Ihre so vielfältigen und unterschiedlichen Konzertprojekte?

Bei der Planung von Projekten und bei der Repertoireauswahl habe ich immer ein großes weißes Blatt Papier vor mir liegen. Und dann kann man sich wie ein Schöpfer fühlen! Man kann auf dieses Papier schreiben, was man will. Erst nach einer Weile wird es durch einige Faktoren und Bedingungen usw. angepasst – und das ist ganz natürlich. Die Zusammenstellung von Programmen hängt meiner Meinung nach maßgeblich von meiner jeweiligen Sicht auf die Welt, auf mich persönlich und auf mein Instrument ab. Und auch von der Entscheidung, was ich dem Akkordeon, mir selbst und vor allem dem Publikum noch geben kann. Ich bin mir sicher, dass die Konzertprogramme beim Rheingau Musik Festival durch viele verschiedene Empfindungen, Klänge und Farben führen, die das Instrument auf eine spannende Art und Weise präsentieren.

 

Durch Ihre Konzerte in den vergangenen Jahren, haben Sie bereits einige Spielstätten des Rheingau Musik Festivals kennengelernt. Und auch in diesem Jahr sind die Veranstaltungsorte ganz unterschiedlich und reichen von der mystischen Atmosphäre im Hospitalkeller von Kloster Eberbach bis zur großen Bühne des Kurhauses in Wiesbaden. Wie unterscheidet sich ein Konzert vor 100 Leuten zu einem Konzert vor Tausenden von Menschen?

Ich kann nur sagen, dass mir persönlich ein Konzert vor 100 Leuten, oder sogar weniger Menschen, im Vergleich zu einem größeren Publikum unheimlich ist. Es kann unerträglich intim und somit einschüchternd werden. Andererseits gibt es nichts Persönlicheres und Unverfälschteres, als in einem kleinen Raum für ein kleines Publikum zu spielen, das einen umgibt. Ich weiß, dass alle verschiedenen Veranstaltungsorte des Rheingau Musik Festivals ihren eigenen Charme und ihre eigene Akustik haben, so dass das Gefühl überall anders sein wird. Das ist wirklich sehr aufregend.

 

Wir freuen uns sehr, Sie beim Rheingau Musik Festival als einen unserer Fokus-Künstler besonders oft erleben und hören zu dürfen. Was möchten Sie dem Publikum in Ihren Konzerten mitgeben? Und worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich hoffe, dass bei denen, die mich bereits zuvor gesehen haben und nun zu meinen Konzerten zurückkehren, die Neugier und Begeisterung für dieses besondere Instrument anhalten wird. Und für diejenigen, die mich zum ersten Mal treffen, wünsche ich mir nur eines – dass sie sich in das Akkordeon verlieben! Das ist schließlich meine Lebensaufgabe und ich bin dem Rheingau Musik Festival dankbar, dass es meinem Instrument und mir eine so schöne Plattform bietet, indem es uns beide in diesem Jahr in den Mittelpunkt stellt.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Headerfoto © Rui Camilo. Das Interview führte Franziska Jung.