Sie haben schon früh mit dem Klavierspielen begonnen. Wie kamen Sie zur Musik? Sind Sie in einem musikalischen Haushalt groß geworden?
Im Prinzip habe ich mit acht Jahren mit dem Klavierspielen begonnen, was ich eigentlich nicht als sehr frühes Alter bezeichnen würde. Anfangs habe ich sogar nur auf einem elektrischen Keyboard, zwei Jahre später auf einem elektrischen Klavier und dann schließlich auf Klavier und Flügel gespielt, weil mein Vater nie wirklich sicher war, bis zu welchem Punkt ich diese Leidenschaft verfolgen kann. Er wollte nicht zu früh zu viel investieren, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, um mich nicht zu sehr unter Druck zu setzen, und um zu sehen, wie weit ich bereit bin zu kommen. Der zweite Grund ist, dass er schließlich nicht einfach ein Klavier ,im Haus haben wollte, auf dem niemand mehr spielt, falls ich aufhören würde. Und ja, es gab keine Musiker in meiner Familie, und das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum ich immer neugierig und interessiert war, auch weil ich gar nicht wusste wie die Zukunft oder das Leben eines Musikers aussieht.

Schon in Ihrer Kindheit nahmen Sie an den ersten Wettbewerben teil. Wann haben Sie sich dafür entschieden, Pianist zu werden?
Ich denke, es gab viele, viele Momente in meinem Leben, in denen ich darüber nachgedacht habe, wahrscheinlich das erste Mal als ich mit 14 Jahren an einem ernsthaften Juniorwettbewerb teilnahm. Ich erinnere mich, dass wir im Finale mit dem Cleveland Orchestra spielten, das die Klangqualität der CDs hatte, die ich die ganze Zeit hörte. Das war einer der ersten besonderen Momente, in denen ich mir sagte, dass das, was ich tue, wirklich etwas Tolles ist. Natürlich kamen dann auch die Teenagerjahre mit Höhen und Tiefen und es gab einige Momente, in denen ich weniger an der Musik und weniger am Üben interessiert war. Später habe ich natürlich weiterhin an einigen Wettbewerben teilgenommen, aber es war nicht unbedingt ein Selbstvertrauensschub. Man muss mental sehr stark sein, um an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, und es ist nicht immer sehr angenehm. Ich habe aber mit der Zeit eine Einstellung entwickelt, mit der ich Wettbewerbe und das Musiker-Dasein mehr und mehr genießen kann und mittlerweile kann ich von der Musik nicht mehr getrennt sein. Wenn ich Musik höre und spiele, sind es sehr magische Momente, und mir wurde sehr bald klar, dass ich diese Emotionen und Gedanken wirklich teilen möchte.

Sie haben chinesische Wurzeln, sind in Paris geboren und als kleines Kind mit Ihren Eltern nach Kanada gegangen. Wo, würden Sie sagen, ist Ihre Heimat? Können Sie sich schnell an andere Kulturen anpassen?
Ja, das stimmt und ich denke es ist schön, wenn man quasi verschiedene Heimaten hat. Ich passe mich definitiv sehr schnell an und ich würde sagen, dass ich zum Glück das Gefühl habe, dass ich nicht in einer Art von „starrem“ Denken feststecke. Das hat mir wirklich geholfen, weniger stur zu sein, nicht nur in der Musik oder der Kunst, sondern auch in den Beziehungen zu den Menschen oder in der Art und Weise, wie man die Welt sieht. Ich lebe immer noch in Montreal in Kanada, aber ich spiele so viel in Europa. Ich bin in Paris geboren, Französisch war daher natürlich immer eine Art Muttersprache für mich. In Paris habe ich die meisten Freunde, aber seit ich den Wettbewerb in Warschau gewonnen habe, habe ich das Gefühl, dass Warschau so etwas wie meine zweite Heimat geworden ist. Ich habe einfach eine ganz besondere Verbindung zu dieser Stadt und diesem Land. Einer der Hauptgründe ist natürlich Chopin und seine herausgehobene Stellung dort. Ich glaube, Warschau ist einer der wenigen Orte, an denen beispielsweise der Flughafen nach einem bedeutenden Komponisten der klassischen Musik benannt werden kann und das ist etwas sehr Besonderes wie ich finde.

Mit dem Gewinn des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2021 in Warschau sind Sie auf einen Schlag in der Musikwelt bekannt geworden. Wie hat sich das anfangs angefühlt? War es seltsam für Sie, plötzlich so in der Öffentlichkeit zu stehen?
Um ehrlich zu sein, habe ich nie darüber nachgedacht. Für mich wurde es etwas sehr Natürliches, weil nichts wirklich geplant ist. Ich habe mich einfach darauf eingelassen und natürlich auch auf das Chaos, das direkt nach dem Wettbewerb auf mich zukam. Das Interessanteste für mich, das vielleicht auch etwas sehr Schwieriges ist, ist die Menge an neuen Dingen, die man lernen muss. Es ist in gewisser Weise wie in der Musik, weil wir jeden Tag neue Dinge entdecken. Entweder spielt man das gleiche Stück oder man lernt neue Programme oder macht etwas anderes. Es ist sehr wichtig, dass wir diese Neugierde am Entdecken endlos aufrechterhalten. Ich hatte schon immer ein Bedürfnis, das zu teilen, was in meinem Inneren entweder auf einer großen oder kleineren Bühne geschieht.

© Bartek Barczyk

Vor zwei Jahren die intensive Auseinandersetzung mit Chopin, jetzt, auf Ihrem aktuellen Album, mit drei weiteren französischen Komponisten – Rameau, Ravel und Alkan. War das Zufall oder haben Sie eine besondere Beziehung zur französischen Klaviermusik?
Inhaltlich weit, aber nicht zu weit von Chopin entfernt zu sein war ein Hauptgrund für die Auswahl der Komponisten und Stücke. Immerhin hat Chopin die zweite Hälfte seines Lebens in Paris verbracht hat und eine große Verbindung zu Frankreich. Außerdem gibt es eine Menge Ähnlichkeiten wie z. B. die Klangfarben, die Sensibilität und Sinnlichkeit. Gleichzeitig gibt es schöne Kontraste, denn die Stücke überbrücken rund 200 Jahre Musikgeschichte. Ich liebe Kontraste, entweder den Kontrast der Kulturen, den Kontrast der Musik, den Kontrast der Charaktere – auch wenn es alles französisch ist –, aber das Klangspektrum reicht von Barock bis Impressionismus. Ravel z.B.  ist nicht nur Impressionist, sondern er hat auch einen gewissen Jazz-Einfluss oder einen spanischen Einfluss. Diese rhythmische Vielfalt bringt einen sehr einzigartigen Charakter mit sich. Manchmal würde ich seine Musik nicht einmal als französisch bezeichnen. Sie ist so virtuos und ein stellenweise vielleicht ein bisschen wie Liszt, dessen Musik wirklich nicht einfach auszudrücken ist, weil sie technisch so anspruchsvoll ist und gleichzeitig eine große Bandbreite an Emotionen ausdrückt.

Sie interessieren Sich auch sehr für zeitgenössische Kompositionen. Sind Sie der Meinung, dass moderne Musik häufiger Eingang in die Konzertsäle finden sollte und wenn ja, warum?
Wenn wir uns die Geschichte anschauen, dann war es immer so, sonst hätten wir nicht die Vielfalt von heute. Wir wüssten nicht, wer Beethoven ist, wer Chopin ist, wer Rachmaninow ist, wenn es nicht den Mut gegeben hätte, immer wieder Grenzen zu überschreiten und Neuem die Chance zu geben. Ich denke also, dass es absolut so ist.

Sie sind – wie mittlerweile viele andere junge Künstlerinnen und Künstler – sehr präsent in den Sozialen Medien. Denken Sie, dass sich der Klassikbetrieb durch die Digitalisierung und Social Media verändern wird?
Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass ich in den sozialen Medien aktiv bin oder nicht. Ich mag es einfach sehr ehrlich mitzuteilen, was ich gerne tue. Das betrifft natürlich die Sachen auf der Bühne, aber auch die Dinge, die ich für die Leute tue, die mich nicht auf der Bühne sehen können. Ich denke, das ist einfach ein Teil meiner Natur. Aber das Wichtigste ist, dass, man sich immer treu bleibt und die Kernbotschaft immer die gleiche ist.

Sie treten nicht nur mit großem Orchester, sondern auch in kleiner Kammermusikbesetzung und im Solo-Rezital auf. Wie unterscheiden sich diese Arten des Musizierens für Sie? Bevorzugen Sie eine davon?
Sowohl mit großen Orchestern als auch in der Kammermusik kommt es darauf an, dass die Chemie sehr schnell stimmt, denn es geht ja darum, mit anderen Menschen zu spielen. Das bedeutet, dass wir uns so schnell wie möglich kennenlernen müssen. Natürlich haben wir in kleineren Ensembles wie der Kammermusik mehr Zeit uns aufeinander zu konzentrieren. Und natürlich ist es in dieser Form auch einfacher, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zu erreichen, weil wir zusammen abhängen können, wir können zusammen essen und uns leichter unterhalten. Wenn mehr Leute beteiligt sind, ist es kaum möglich mehr Zeit zu haben, aber es ist schwer zu sagen, was ich mehr genieße. Ich denke, die meisten Musiker würden wahrscheinlich eher Kammermusik genießen, aber ich genieße diese majestätischen und leidenschaftlichen Emotionen mit Orchester auch sehr. Wenn man weiß und merkt, dass jeder auf ähnliche Weise denkt, dann hinterlässt das wirklich eine Art unvergessliches Gefühl.

Vor zwei Jahren gaben Sie mit einem Soloabend auf Schloss Johannisberg Ihr Debüt beim Rheingau Musik Festival. Welche Bedeutung hatte dieser Auftritt für Sie und wie hat Ihnen der Rheingau gefallen?
Seitdem bin ich jedes Jahr hier und ich liebe diesen Ort und den Rheingau absolut – nicht nur wegen des Rieslings, sondern einer der Hauptgründe ist natürlich, dass man hier im Grunde genommen Urlaub macht.  Nur hier findet sich die perfekte Atmosphäre, die ein Festival oder ein Musikveranstalter den Künstlern vermitteln kann. Ich fühle mich hier wie zu Hause, umgeben von wunderbaren Menschen und wunderbarem Essen. Und was will man mehr?

2023 waren Sie nicht nur direkt wieder für ein Klavier-Rezital beim Rheingau Musik Festival gebucht, sondern sprangen auch als Solist für die Pianistin Khatia Buniatishvili in einem Konzert mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Gianandrea Noseda mit Rachmaninows 2. Klavierkonzert ein. Was haben Sie für Erinnerungen an diesen Abend?
Manchmal, wenn es um wichtige Dinge geht, habe ich das Gefühlt, dass alles wie im Flug oder im Traum vergeht. So ging es mir auch an diesem Abend, der für mich wirklich sehr besonders war. Ich kam erst am Morgen des Auftritts aus den USA eingeflogen, wo ich am Vortag noch einen Auftritt hatte an. Ich erinnere mich, dass es ein live gestreamtes Konzert war, das auch online bei ARTE einsehbar werden sollte, also mussten wir bei der Generalprobe die Konzertkleidung tragen und uns natürlich schminken. Alles war etwas chaotisch und es war auch noch das erste Mal, dass ich mit diesem Orchester gespielt habe. Im Nachhinein erinnert es mich ein bisschen an den Chopin-Wettbewerb und das Galakonzert nach der Bekanntgabe des Preises. Alles passierte so schnell, aber ich muss sagen, dass ich die Aufführung wirklich genossen habe. Es war übrigens auch mein erstes Mal, dass ich im Wiesbadener Kurhaus gespielt habe. Einen solch inspirierenden Ort zu haben, hilft natürlich.

Im diesjährigen „Sommer voller Musik“ werden Sie Tschaikowskis berühmtes erstes Klavierkonzert an der Seite der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen aufführen. Was ist das Besondere daran, mit großem Orchester auf der Bühne zu stehen? Und wie stehen Sie zu diesem Werk?
Ja, das kitschige! [lacht]. Tatsächlich habe ich zunächst Tschaikowskis zweites Klavierkonzert gelernt und habe dann länger überlegt, ob ich das erste auch lernen soll oder nicht. Ganz ähnlich übrigens wie bei die Rachmaninows Nr. 3… Da es schon so viele Pianisten gespielt haben, stand ich vor der Frage, was es wohl bringt, wenn ich es auch noch lerne. Nur, wenn ich etwas Neues zum Ausdruck zu bringen habe. Und bis zum letzten Sommer, als ich zum ersten Mal Tschaikowskis Nr. 1 gespielt habe, habe ich mir daher gesagt, dass ich mehr Stücke von Tschaikowski spielen muss, um ihn besser zu verstehen und kennenzulernen. Und so kommt es also, dass ich diesen Sommer sein erstes Konzert spiele.

 

Beim Spielen mit einem großen Orchester geht es hauptsächlich um die Balance, den Klang und natürlich darum, ob wir ähnliche Vorstellungen haben. Tschaikowskis Musik ist einerseits sehr, sehr massiv, aber andererseits kann sie auch sehr klar und einfach sein. Sie ist so, dass sie, glaube ich, wirklich jeder versteht und für die breite Öffentlichkeit gedacht. Das Konzert Nr. 1 ist wahrscheinlich eines der berühmtesten Klavierkonzerte der Musikgeschichte. Deshalb denke ich, dass es für das Spielen solcher Stücke heutzutage noch wichtiger ist, dass wir eigene und neue Ideen haben.

Gemeinsam mit einem Streichtrio werden Sie Klavierquartette von Brahms und Fauré auf die Bühne bringen. Wie erarbeiten Sie sich solche Kammermusikwerke? Und wie viel Probenzeit bedarf es dann mit den anderen Musikerinnen und Musikern?
Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir für die Proben haben werden, aber für mich gibt es generell zwei Arten da ranzugehen: Entweder wir lassen das spontane Gefühl des Zusammenspielens auf der Bühne oder wir proben so viel wie möglich. Beide Erfahrungen habe ich schon gemacht, und beide können sehr, sehr großartig sein. Ich es kaum erwarten, solche Stücke mit wunderbaren Musikern aufzuführen, denn es ist wirklich schon eine Weile her, dass ich Kammermusik gespielt habe. Während meiner Schulzeit habe ich das ziemlich intensiv getan, und ich habe es wirklich vermisst. Zusammen Kammermusik zu machen war für mich immer eine intime und schöne Erfahrung, vor allem über detailliert über Ideen zu diskutieren. Und die Diskussionen endeten immer mit endlosen Witzen, entweder über Bratsche oder über Streicher oder über unsere Lehrer [lacht].

In einem Solo-Rezital sind Sie dieses Jahr mit Klaviersonaten von Skrjabin, Beethoven, Haydn und Prokofjew zu erleben. Wie stellen Sie das Programm für einen solchen Abend zusammen?
Ich denke, ich suche die Balance zwischen Ernst und Spaß, alt und neu, konservativ und aufgeschlossen, traurig und fröhlich.

© Bartek Barczyk

In Ihrem letzten Konzert sind Sie mit Chopins virtuosem ersten Klavierkonzert und dem Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvis Leitung zu Gast. Was ist aus Ihrer Sicht das Spannende an diesem Werk?
Dieses Werk wird immer eine Herausforderung für den Rest meines Lebens sein, denn ich habe es nicht nur so oft schon gespielt, sondern ich entdecke auch jedes Mal neue Dinge, die mich in gewisser Weise immer wieder überraschen. Natürlich habe ich das Konzert im Finale des Chopin-Wettbewerbs gespielt, was wirklich ein unvergesslicher Moment ist. Und witzigerweise habe ich dieses Stück schon ein paar Mal mit Paavo Järvi und dem Tonhalle-Orchester Zürich gespielt. Letztes Jahr waren wir in Japan auf Tournee und ich kann es kaum erwarten wieder vereint zu sein. Es war eine unvergessliche Zeit! Das Orchester hat einen wunderbar warmen Klang, aber gleichzeitig haben sie diesen kammermusikalischen Stil, der für dieses Stück sehr wichtig ist. Paavo ist einfach ein erstaunlicher Musiker, der die folkloristischen Themen und Tänze kennt, und was am wichtigsten ist, wir genießen den Humor auf der Bühne.

Zum Schluss: Worauf darf sich das Publikum des Rheingau Musik Festivals bei Ihren Konzerten besonders freuen? Was möchten Sie den Besuchern mit auf den Weg geben?
Kommen Sie einfach. Ich erwarte nicht, dass Sie etwas mitnehmen, sondern dass Sie in eine andere Welt entführt werden.

Bruce Liu beim Rheingau Musik Festival 2024

K 2 | So. 23.6. | 19 Uhr
Kurhaus Wiesbaden

Bruce Liu, Klavier
hr-Sinfonieorchester
Alain Altinoglu, Leitung

K 13 | Fr. 28.6. | 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden

Bruce Liu, Klavier
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Jérémie Rhorer, Leitung

K 36 | Di. 9.7. | 19 Uhr
Schloss Johannisberg

Bruce Liu, Klavier

 

K 42 | Do. 11.7. | 19 Uhr
Schloss Johannisberg

Bruce Liu, Klavier
Yamen Saadi, Violine
Sara Ferrández, Viola
Kian Soltani, Violoncello

K 139 | Fr. 30.8. | 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden

Bruce Liu, Klavier
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi, Leitung

Titelfoto © Christoph Köstlin